Gemsendorf macht den Longtail

Die meisten kleineren Tourismusdestinationen in den Bergen machen in der Zwischensaison die Schotten dicht oder es wird hastig gebaut und erneuert. Chamois auf der Südseite des Matterhorns ist anders.  

Ende September in Chamois: Auf 1818 Metern über Meer fröstelt es am Morgen. In der Nacht gefrieren die Wiesengräser. Am Vormittag kommen ein paar Gemsen und grasen gleich unterhalb des Dorfes, nur fünfzig Meter von den neugierigen Blicken der Gäste entfernt.

 

Die Einheimischen machen Kaffee. Arbeiter schlendern von den Gondeln zu den Baustellen. Mein Nachbar, ein Einheimischer, hängt Wäsche auf, seine Katze liegt auf einer Bank in der Sonne. 

1. These: Die Anzahl Hauskatzen in einem Bergdorf verhält sich direkt proportional zur Existenz einer traditionellen Soziokultur jenseits vom Tourismus. 

In den meisten kleineren Tourismusdestinationen der Alpen gefriert jetzt nachts das Gras. Das Leben ist aber schon länger erstarrt. In Bivio zum Beispiel, der Perle am Julier, rinnt nur noch der Durchgangsverkehr des Engadins hindurch. Fast alle Restaurants und Hotels machen im Herbst Betriebsferien. Einheimische, mal abgesehen von den stadtflüchtigen Intellellos, die Ruhe suchen, verreisen in diesen Tagen in die Ferien. Sie sind weit, weit weg - in Thailand oder einem anderen exotischen Land. Einzig Wandertagestouristen kommen mit dem gelben Bus von Tiefenkastel. Ansonsten läuft nichts, rein gar nichts in Bivio, Les Paccots, Grächen, Sedrun, und, und, und - und diese Orte liegen alle deutlich tiefer als Chamois.

Chamois hat Bauern

Nicht so in Chamois! Das autofreie Dorf im Freistaat Aostatal besteht aus mehreren Weilern, sogenannten Fraktionen. Die Frazione westlich und oberhalb der Seilbahn wirkt ausgestorben, vergleichbar mit anderen kleineren Tourismusdörfern der Alpen. Hier gibt es viele kalte Betten. Meine Spaziergänge und Fahrradfahrten durch das Siedlungsgebiet haben mir jedoch die ganzjährig belebte Seite von Chamois offenbart. Die Mehrheit der Fensterläden sind offen. Ich sehe immer wieder Menschen, die eindeutig nicht Touristen sind. Zum Beispiel ein Bauer, der mit seinem Güllewagen und Traktor nicht mehr weiterkommt, weil ein anderer Local sein Berggefährt in den Weg gestellt hat. Der Bauer wirkt dumpf; Der Städter denkt voller Vorurteile an Alkohol oder Inzest. Vielleicht ist der statische Habitus einfach Kultur? In vielen Bergdörfern, in denen die TourismusBranche dominiert, gibt es häufig keine einzige Bauernfamilie mehr. In Chamois muss man immer wieder den Güllegeruch ertragen, da diese Wiesen hier nicht nur mit Schneeund Skibrettern bewirtschaftet werden. Ob das noch lange so bleiben wird, bezweifle ich… 

2. These: Die Häufigkeit von Güllegeruch in einem Bergdorf verhält sich direkt proportional zur Existenz einer alten Soziokultur des Dorfes.

Chamois hat Kultur
Ich bin ein Kunstbanause. Gleichzeitig fühle ich mich in kultivierten Kreisen besonders wohl. Zivilisierte, kunstvolle und mit Kulturangeboten durchtränkte Orte geben mir ein gutes Gefühl. In Chamois findet man einiges davon. Unter anderem eine wundervolle OutdoorAusstellung mit übergrossen Fotos an verschiedensten Häusern und Ställen.

3. These: Wenn ein derart kleines Bergdorf mehrere kulturelle Angebote stemmen mag, beweist das die Existenz einer stabilen Soziokultur.

Chamois ist öko
"Le Chamois" heisst Gemse auf Französisch. Das Aostatal war früher Teil von Savoyen, daher ist viel französisch hier. Ich bin total frankophil und ich vertrete die Meinung, Frankreich sei in ökologischen Fragen inzwischen progressiver als die Schweiz. Von Italien kann ich das nicht behaupten. Aber Chamois ist meiner Meinung nach eine Ausnahme. Es ist Mitglied der Kooperation Alpine Pearls. Damit hat sich Chamois umweltverträglichen Tourismus auf die Fahne geschrieben. Alpine Pearls wurde 2006 gegründet. Diese Kooperation besteht aus 25 Tourismusgemeinden in sechs Alpenstaaten. Den Gästen sollen die Möglichkeit der autofreien Anund Abreise sowie weitere klimaschonende Urlaubsangebote geboten werden. 

4. These: Chamois gibt sich in vielen Bereichen Mühe.

Chamois hat Flugplatz
Es gibt in Chamois einen Altiport. Hier landen und starten pro Tag etwa drei Kleinflugzeuge. Am Wochenende sind es mehr...

5. Aussage: Flughafen ist eine klare Antithese zu ökologischem Tourismus.

Chamois trennt
Ich habe noch nie in einem touristischen Bergdorf so viele Sammelstellen für Müll und Recycling gesehen. Von unserem B&B musste man gerade mal hundertfünzig Schritte gehen, um Multimaterial, Glas, Karton und Papier zu entsorgen. Auf einem Höhenweg von Chamois nach Magdalena sind pädagogische Tafeln zum Thema Energie und Energiesparen aufgestellt. Ein solches Schild widmet sich der «richtigen Art zu reisen»: Das Flugzeug ist durchgestrichen. Kündigt Chamois hier die Trennung von seinem Altiport an?

6. Meinung: Trotz Flughafen wirkt das Versprechen ökologischer Ferien echt. Vor allem, wenn man mit dem Velo anreist.

Chamois macht MünchenPrinzip
Das Bergdorf ist eine Baustelle. Anderswo stressen mich Baustellen. Hier nicht, ich fühle mich wohl. Lärm hat es zwar immer wieder, aber er ist erträglich. Vielleicht liegt es daran, dass sich das Baugewerbe der Region, eine der reichsten Italiens, Zeit lässt und sorgfältig arbeitet. Die autonome Region Aosta liegt, gemessen an der Kaufkraft, deutlich über dem EUSchnitt. Die bevölkerungsund flächenmässig kleinste Region Italiens liegt auf dem EUKaufkraftindex höher als beispielsweise die Stadt Berlin. Reserven für Chamois sind vorhanden, und Chamois ist noch lange nicht fertig. Das Baugewerbe hat die Musse, jeden Stein perfekt zu legen. Die Neubauten und die gepflasterten Wege wirken zum Teil pittoresk in ihrer Perfektion. Während gewisse Hotels aus vergangenen Zeiten verkommen, stehen daneben schmucke Häuser und schicke Hotels. Das Viersterne "CLY" reizt mich, aber auch die luxuriösen Suiten von Alberto, der das B&B "Rascard D'Antan" führt, in welchem wir Alpgänger wohnten. Das Bergdorf lässt sich offenslichtlich Zeit in seiner Mutation zur vollkommenen Tourismusdestination. Das ist Vergleichbar mit dem Wiederaufbau von München. Im Gegensatz zu den meisten anderen Städte Deutschlands hat die nördlichste Stadt Italiens alles identisch und robust hergerichtet. In Chamois ist vieles erledigt, tausende Dinge stehen aber noch bevor. Die wenigen Bauten aus den Siebzigern und Achtzigern des letzten Jahrhunderts verlottern möglicherweise bewusst; bald kommt der Abriss? Die neuen Gebäude haben eine ganz andere Substanz, ebenso die rennovierten Häuser. Bei den Autos redet man von NewTimern, wenn neue Autos ähnlich wie OldTimer designed werden. Diese Neubauten von Chamois sind NewTimer. Sie wirken zugleich für die Ewigkeit gebaut. Die Menschen, die mit diesen Häusern Geld verdienen möchten, haben Zeit. Der ROI muss nicht in fünf oder zehn Jahren kommen. Möglicherweise werden erst spätere Generationen dank diesen Investitionen Gewinn einfahren. Dann aber während den nächsten hundert Jahren.

7. Frage: Gibt es einen "Long Tail"* 

im Tourismus, wenn Gebäude gebaut werden, die ewig halten?
de.wikipedia.org/wiki/The_Long_Tail