Amdenstein

 

Im Jahr 2003 kam der Unternehmensberater Hans Meyer für einen einwöchigen Aufenthalt nach Amden. Das damals noch Schweizer Streudorf hatte schon bessere Tage gesehen. Es bestand aus den üblichen, in Aubergine plastikverschindelten, alten Bauernhäusern, ausgebauten Chalets, und neu erstellten Ferienhäusern mit Bergblick. Auch die ersten Flachdachbungalows standen bereits in Planung. Hans Meyer war sofort fasziniert. Schon der erschwerte Zugang durch den teilüberdachten Ortstunnel, der hoch über dem Walensee zur ersten Kehre führte, ergab für ihn Sinn. Es bedurfte nur wenig Aufwand, und Amden würde von der Au§enwelt abgeschnitten sein.


Auf einer Sonnenterasse mit Blick auf die Flumser Berge gelegen und nicht zu weit von Zürich entfernt, aber doch rings mit den Gipfeln umgeben, konnte das Hochplateau als eine abschliessbare Einheit gesehen werden. Hans Meyer beschloss, in den darauf folgenden Jahren, immer wieder die Sommer hier zu verbringen, und sich mit der hiesigen Bevölkerung anzufreunden.

 

Mehr und mehr Menschen lernten Hans Meyer schätzen. Er grüsste freundlich, wann immer er einen aus dem Dorf vorbei gehen sah, stand immer für ein paar nette Worte vom Südbalkon seiner Ferienwohnung auf und lehnte für einen kleinen Plausch an das Geländer. Und er hatte interessante Dinge zu erzählen, die mehr und mehr Eingang in scheinbar nebensächliche Plaudereien fanden. 

 

 

Vor allem seine Schilderungen von den zunehmenden Problemen in der Schweiz und den umliegenden Ländern. Vor allem die Angst vor dem Zuzug von Ausländern und die immer mehr erhöhte Steuerlast gab den Menschen in Amden zu denken. Zwar hatten sie beides vorher noch kaum wahrgenommen. Aber sie waren dankbar über die Hinweise, die sie nun zwischen zwei herzlichen Grüssen bekamen. Auch abends, denn man traf sich im Wirtshaus, das ein guter Treffpunkt war, wenn die Tagestouristen verschwunden waren. Hans Meyer trat immer dann vorsichtig in die Wirtstube ein und setzte sich bescheiden in eine der freien Ecken. Erst wenn ihn die Bauern oder die Würdenträger des Ortes ansprachen, stand er auf, trat an ihren Tisch, setzte sich mit einem kleinen Bier in der Hand und zeichnete den Menschen am Stammtisch ein düsteres Bild. Sie nickten alle. Immer mehr. Wie das Wasser seinen Weg nach einem Regen über die Strassen fand, rieselte jedes dieser Gespräche in das Denken der Amdener. Und Hans Meyer war froh darüber. Längst hatte er den Plan gefasst, nach Schweizer Recht der Gemeinde die Abspaltung von der Schweiz vorzuschlagen. Solche Bestrebungen, ernst oder nicht, gab es immer wieder. Das konnte nicht von heute auf morgen passieren, das musste gut vorbereitet werden. Zumal ein einfacher Austritt ohne die Zustimmung der Kantone nicht möglich schien


Nach gültigem Recht von 1815, und Hans Meyer zeigte das eines Abends als Faksimilie, als die Diskussion immer mehr vom weg zum wie weg überging, konnte man das schon tun. Das Nicken der ersten Befürworter wurde von da an stärker. Vor allem auf der Bürgerversammlung, denn es war möglich, sich von der Schweiz ab zu spalten, ohne deren staatliche Aufgaben zu verlieren. Das tat niemand, aber es war eben möglich, deshalb verhiess es Erfolg. Man sprach an diesem Abend über den ungeheuren Plan, von vorne zu beginnen und all das zu vermeiden, was die Schweiz zunehmend so wenig lebenswert zu machen schien. Man könnte endlich den Autoverkehr aus dem Dorf entfernen, wenn man unter sich bliebe. Und es sei leicht denkbar, wie schon bis 1891 wieder autark zu leben. Die Welt weit unten, noch weiter weg als der Walensee, schien so gar nicht mehr schön zu sein. Warum sie also herein lassen?

 

 

Sicher, einzelne hatten keine Freude darüber. Vor allem die Jungen. Sie würden in Amden festgenagelt sein, würde man Grenzkontrollen am Ausgang der Galerie von Weesen her etablieren. Aber die konnten ja auswandern. Zurück kommen könnten sie als Staatsbürger der Schweiz und des neuen Staates jederzeit. Und auch die fremden Chaletbesitzer würde man zwar zuerst als Steuerzahler verlieren, aber es könnte ja eine gute Investition für vor allem zahlungskräfige Wochenender sein, sich einbürgern zu lassen. Der neue Staat Amdenstein, so hatte Hans Meyer vorgeschlagen und damit auch gleich einen Namen für das Gebiet ins Spiel gebracht, könnte sich wie Liechtenstein mit einem exklusiven Bürgerecht ein stattliches Auskommen sichern und Steuerbefreiungen anbieten, die der ehemalige Mutterstaat nie und nimmer planen würde. Und das alles bei der Beibehaltung des starken Schweizer Franken und einer gewissen Protektion durch das Schweizer Militär. 



Im Stillen hatte man sich untereinander besprochen und bereitete unter Anleitung von Hans Meyer den so wichtigen Schritt vor. Man verständigte sich auf den nächsten Monatsersten, um alle Dinge in die Wege geleitet zu haben. Also setzen die Amdener die Abstimmung über den Verbleib in der Eidgenossenschaft an, und die Dorfbewohner stimmten in einer einmaligen Landsgemeinde wie rechtlich vorgeschrieben einstimmig der Gründung des neuen Staates zu. Es gab ein grosses Fest in der Dorfmitte, das nun zu einem eigenen Staat erklärt wurde. Gleichzeitig hatten die Männer über Nacht die Galerie als Baustelle dekoriert und zur Durchfahrt verwehrt. Und man hatte still und leise alle Touristen mittels geschickter Buchung am Vorabend abreisen gesehen. Amden konnte zu Amdenstein werden.

 

 

Der Jubel in Amdenstein war gross, und gegen seinen erklärten Willen wählte man in der nächsten Bürgerversammlung Hans Meyer zum neuen Vorsteher. Der bisherige Bürgermeister nahm staunend zur Kenntnis, das man ihn als einen der Schweizer sah. Und es wurde ihm nahegelegt, die Matte zu verlassen. Am nächsten Tag öffnete man ihm und seiner Familie die Galerie, damit er freiwillig auswandern konnte.

 


Die beschlossenen Änderungen wurden nun mit aller Kraft vorangetrieben. Statt unnützer Automobile stieg das Dorf auf ein Netz von Seilbahnen und Querbändern um, die für jeden Bürger unentgeltlich wurden. Alle Häuser Schweizer Zuschnitts wurden ein einem neuen Bebauungsplan zurückgebaut und wandelten sich in die herkömmliche Architektur der Amdensteiner. Touristische Angebote verschwanden, alle Arbeiten im und für das Dorf erhielten einen Fond, aus dem die Aufwände bezahlt wurden. Bauern bestellten nur noch für Amden ihr Land, und die wenigen Dinge, auf die man nicht verzichten wollte, wurden einmal im Monat durch die bewachte Galerie importiert. Orangen und Zitronen sowie einzelne Genussgüter wie Alkohol und Tabak fanden auch so wieder Zugang zu den Menschen. Medienempfang und das Internet wurden in Amdenstein durch ein lokales Angebot abgesetzt, in dem die Menschen sich selbst alles mitteilten und auf die Aussenwelt keinen Wert mehr legten.

 

Wie zu erwarten, machte sich ein Exodus der Jungen bemerkbar. Das war traurig für die Eltern, doch man hatte es erwartet. Denn schon vor der Unabhängigkeit hatte Amden für sie nicht viel zu bieten. So änderte sich für die Matte wenig, die Jungen kamen vielleicht noch an den Wochenenden über die Grenze. Nun umso weniger, denn die Kontrollen waren aufwändig, auch wenn man sich natürlich kannte. Aber Hans Meyer hatte alle gebeten, von nun an sehr vorsichtig zu sein.

Amdenstein war ein Paradies geworden, und die Schlangen würden um den Hag schleichen und versuchen, in den Garten Eden zu gelangen. Man stimmte zu. Die Jungen würden wiederkommen, wie schon immer, und bis dahin war es gut, wenn sie von aussen nicht zu viel Unruhe herein trugen. Nur der Dorfgeistliche begehrte auf. Das sei alles eine Sünde, den eigenen Staat wie einen göttlichen Garten zu sehen. Und es sei auch Sünde, sich von der Aussenwelt abzuschotten, als wohne der Teufel an den Grenzen. Man hörte nicht auf ihn. Er ging bald.

 

 

Hans Meyer hingegen bezog eines der kleineren Häuser, die frei geworden waren und wendete sich intensiv dem Aufbau von Amdenstein zu. Nach eingehender Recherche bot er den Reichsten Bürgern der umliegenden Länder an, sich eine Staatsbürgerschaft zu erwerben und damit einen Wohnsitz zu erhalten. Pflicht sei es, wirklich in Amden zu wohnen, allerdings gäbe es schlimmere Plätze auf der Welt. Und natürlich stände ein Helikopter Landeplatz für diverse Besuche zur Verfügung. Das Land sei sicher und verlange vor allem so gut wie keine Steuern. Nur 1% aller Zinseinnahmen. In schlechten Jahren sei also gar keine Steuer zu entrichten. Kein Land der Welt biete bessere Möglichkeiten für einen guten Lebensabend und den Genuss der eigenen Arbeit. Natürlich habe man vollen Zugriff auf die Schweizer Kliniken in der Gegend. Und die Zürcher Oper sei mit dem Helikopter leicht zu erreichen. Es dauerte nicht lange, und die ersten asiatischen Milliardäre liessen sich in Amden blicken. Das Bild auf den Seilbahnen wandelte sich allmählich hin zu sehr gut gekleideten Fremden, die sich mit einem mühsam gelernten _Grüezi _freundlich grüssten. Da die Jungen über Jahre ausblieben und die ganz Alten langsam den Friedhof füllten, konnte die Einwohnerzahl im Wesentlichen konstant gehalten werden. Und die Einnahmen aus dem einen oder anderen Zinsprozent füllten die Kassen für alle.

Vor allem die Konten von Hans Meyer wuchsen beträchtlich. Man gönnte es ihm von Herzen. Hier in Amdenstein brauchte man nicht viel Geld, es ging allen gut, und alle waren zusammen mit den neuen Bürgern glücklich. Nur der Krach der Helikopter eine Stunde vor Beginn der Oper in Zürich störte zuweilen.



Amdenstein, oh Amdenstein -
So lasst uns alle einig Amdner sein.

Brüderlein und Schwesterlein -
Vom Berg herab, tritt bei uns ein.

Amdenstein, oh Amdenstein -
Es fühlt mein Herz den Sonnenschein.

Büderlein und Schwesterlein -
Wir sind ein Land und wollen das auch sein.

Amdenstein, oh Amdenstein -
So frei und schön ist unser Alpenhain.

Brüderlein und Schwesterlein -
Du liebe Ernte, sei Du mein und Dein.

Amdenstein, oh Amdenstein -
Brüderlein, umarm das Schwesterlein.