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Das Böse und das Kranke



Wir befinden uns 500 Höhenmeter von der Talstation entfernt und laufen auf die ersten drei Gästehäuser zu, die seit etwa 15 Jahren kranke Kinder beherbergen. Allerdings nehmen die Zuständigen dieser Kurkliniken zunehmend mehr Patienten mittleren Alters auf. Nach Anraten der Ärzte haben sich diese Leidenden auf die Höhe bringen lassen, denn im Tal scheinen die Krankenhäuser keine Heilung für sie zu finden.

Hier oben mit Blick auf Berge und den Wolken nahe dehnt sich der Himmel und gibt den Kranken zum ersten Mal seit Monaten das Gefühl, dass das Leben für sie nicht nur ein Tränental sein muss.

So ist es in der Broschüre der Sanatorienkette zu lesen, die diese Häuser hier in den bayerischen Alpen betreibt. Zunehmend erhärtet sich aber der Verdacht, es handele sich um inoffizielle Zusammenkunft von scheinbaren Kranken, die nur einen Zweck verfolgt: die Simulanten wollten ihr sattes Leben in möglichst schöner Umgebung verbringen. Und das kann angesichts der groszügigen Frühverrentungen in der Bundesrepublik sehr lange sein. Es war deshalb für die beschriebene Gruppe sehr wichtig, ärztliche Gutachter davon zu überzeugen, dass sie in den folgenden Monaten Empfehlungen aussprachen, derer sich die Kranken bedienten, sich auf den schönsten Plätzen des Landes niederzulassen. Abseits der grossen Städte und damit auch aus dem Sichtkreis eines überwiegenden Grossteils der Bevölkerung, um dort eine angebliche Heilung vorzutäuschen.

Tagsüber, vor allem zu Besuchszeiten, sind die Strassen vor den Häusern oft menschenleer. Kaum ein Patient schleppt sich aus seinem Zimmer. Viele von ihnen haben eine Diagnose auf schweres Astma anhängig.

Bald aber nach Sonnenuntergang beginnt das laute Leben immer dann, wenn sich gegen Abend zu das Pflegepersonal in das Tal begibt, um dort seinen Feierabend zu geniessen. Vom Berg schallt es dann im Drogenrausch der angeblichen Medikamente, und mehr als ein nackter Kranker soll gesichtet worden sein, wie er dem Drang seiner Blase auf einer der Stützmauern gen Tal nachgegeben haben soll.

Gezahlt wird das alles von den örtlichen Krankenkassen. Die Kontrolle der Bücher findet einmal im Jahr statt. Der Kontrolleur ist ein Schulfreund des Gesundheitsministers.

Natürlich sind diese Umtriebe den örtlichen Politikern bekannt, und natürlich könnte man mit einem einzigen Federstrich in der Verwaltung die Freiheit dieser Nutzniesse beenden. Aber niemand schreitet ein. Zum einen wäre es möglich, dass diese Politiker eines Tages sich zu den Kranken gesellen, um auch einen Anteil an der ständigen Krankfeier zu erhalten. Zum anderen kann es sein, dass einzelne Politiker sich um die Stimmen ihrer Wählersorgen machen. Fast jede der Familien im Wahlkreis hat einen Kranken, der sich hier oben am Berg kuriert.

Aber damit kann es nun vorbei sein. Denn es regt sich ausserparlamentarischer Widerstand.

Die K. E. G., die Krankeneinsatzgruppe mit Sitz in der Kaserne Mittenwald, ist keine offizielle Abteilung der Bundeswehr. Einzelne Offiziere der dort anwesenden Gebirgsjägerdivision haben es sich allerdings wütend für die Wochenenden als Aufgabe gestellt, diesen Umtrieben ein Ende zu bereiten. Sie können die Verschwendung von Steuergeldern durch Kranke schon alleine mit ihrem Diensteid nicht mehr in Einklang bringen. Kurz vor Sonnenaufgang steigen sie mit ihren Hubschraubern auf und beschiessen im Gegenlicht von Osten her einfliegend die umliegenden Krankensiedlungen mit ihren Raketen. Keine der Siedlungen hat bisher die geeigneten Mittel dazu gehabt, dagegen vorzugehen. Es wäre ein leichtes, diese brutalen Übergriffe über den Weg der Politik Einhalt zu gewähren. Aber nachdem man sich ein bis zwei Nächte darüber unterhalten hatte, beschlossen die Krankenräte ohne weitere Diskussion, diese Attacken auszustehen. Zum einen sah man sich in der Unterzahl, zum anderen war klar, dass jegliche Form des Protestes erst eine Öffentlichkeit herstellen würde. Und genau diese Öffentlichkeit würde auch die Frage nach der Rechtfertigung einer solchen Siedlung stellen. Genau diese Rechtfertigung war aber nicht vorhanden.

Man beschloss vielmehr, ein wenig privates Kapital zusammenzustellen, einen alten Bekannten mit Verbindungen in den Nahen Osten zu kontaktieren und Flakgeschütze in Stellung zu bringen, die man billig erstehen konnte. Die Rechnung lief dahingehend, dass abgeschossene Hubschrauber einer Einheit, die unerlaubt an Wochenenden auf eigene Rechnung kämpften, so wohl kaum in den offiziellen Berichten auftauchen konnten. Es war wohl davon auszugehen, dass eventuelle Verluste unauffällig in die laufenden Kämpfe in Afghanistan und Pakistan eingeordnet wurden. Aber irgendwann würde sich der Nachschub an Fluggerät nicht mehr budgetieren lassen. Schon gar nicht an der Südgrenze des eigenen Landes.

Wieder stiegen die Hubschrauber auf und erlebten am 13. August vergangenen Jahres zum ersten Mal Gegenfeuer, als sie wiederholt versuchten, einen Lehrer mit vorhandener Krankenakte und auf dem Weg zum Bergschwimmbad zu beschiessen. Das Geknatter der Hubschrauber und die einprasselnden Garben der Geschütze beider Seiten waren weit hinaus in das Tal zu hören, als an diesem Morgen der vergebliche Angriff mit dem Decknamen "Lunge" in einem Desaster für die Angreifer endete. Die Lokalzeitung vermied einen Aufmacher über diesen Angriff, so wie auch die Bevölkerung tat, als wäre nichts geschehen. Abends fehlten in der Kaserne Mittenwald zwei Hubschrauber, und vier Unteroffiziere mit schweren Verletzungen hatten das Hospital aufzusuchen.

Aber die Angriffe der Selbstjustiz auf die Vertreter der Selbstkur gehen weiter. Die angeblichen Ausfälle in Afghanistan beunruhigen die Bevölkerung aber zunehmend. Man wird das bald erklären müssen. Bisher hat sich dazu aber keine Lösung gefunden. In Mittenwald dachten die Unteroffiziere auch freier über das Ende dieses Projektes nach. Die Vorschläge reichten von atomarem oder chemischem Beschuss durch die befreundeten amerikanischen Truppen bis hin zur Auflösung der AOK. Klar ist allerdings auch, dass die Presse nur noch wenige Monate zurückgehalten werden kann, bis sie in einer der folgenden Sommer über die merkwürdigen Umtriebe am Südrand der Republik berichten wird.

Zusätzliche Dramatik erhält diese Frage noch durch die Tatsache, dass inzwischen auch einzelne Soldaten als angebliche Lungenkranke in den Hospitälern erkannt und aus dem Gelände heraus verwiesen wurden. Es deutet sich an, dass in der nächsten Zeit via infiltrierter Sondertruppen Einsätze zu erwarten sind. Auch sollen bereits die ersten Patienten begonnen haben, sich an Hubschraubern ausbilden zu lassen. Es steht deshalb zu befürchten, dass in nächster Zeit die Gefechte auch auf die umliegenden Dörfer und deren Polizeistationen übergreifen werden.

Es ist mit Verletzten und weiteren Toten am Kurberg zu rechnen. Einzelne Einwohner der nächst gelegenen Stadt bezeichnen die Umtriebe auf dem Berg als " einfach nur krank", verweigern weitere Auskünfte.