Die Leere, weit oben

Da oben ist nichts. Das mag jetzt seltsam und hundertmal gehört klingen, aber da oben ist wirklich nichts. Das heisst, es ist schon etwas, aber es sieht aus wie nichts. Weil so vieles dort nicht ist, was man von weiter unten kennt. Kein Baum, kein Haus, kein Mensch, kein Bach, kein Weg. Nur mattes Gras und grauer Fels. Der Berg dahinter rostet an den Flanke herunter und bietet sonst wenig. Das ist alles nichts. Weiter oben noch ein dunklerer Berg und ein Himmel ohne Wolken. Nur blau und an Nachmittagen langsam in ein Abendbeige übergehend. Das ist alles.

Symmetrie ist die Abwesenheit von Information. Das Nichts über der Baumgrenze, das sich über die Matten und kargen Höhenzüge legt hingegen ist ein nicht endender Loop. Eine ständige Wiederholung im immer Gleichen. Vielleicht ein anderer Lichteinfall oder eine Wolkenschatten kann das verändern. Du beginnst Deinen Aufstieg mit dem Blick nach unten, denn es ist steil, anstrengend, der Weg kann Dich mit Deinen Füssen stolpern machen. Und wenn Du später verschwitzt wieder nach oben schaust und bemerkst, dass Du den ersten Höhenzug fast erreicht hast, dass Dir die Sonne in den gebeugten Rücken sticht, dann schaust Du auf und siehst das Nichts, das sich gleichsam einem ewig reichenden Echo an Farbe und Fels verliert. Du kannst dort hinein schreien, niemand wird das hören und kein Steinchen wird deshalb anders zu liegen kommen. Du bist der Wiederholung gegenüber machtlos und zählst hier nicht. Du bist der einzige Bruch in etwas, das wie eine träge Welle sich im Nichts verliert. Wenn Du das einsiehst, wenn es Dir nicht mehr viel ausmacht und den Blick über die Gipfel hinweg gleichsam wie ein Koan unberührt erträgst, dann geschieht endlich etwas. Du bist frei, erträgst Dich endlich, wenn Du Dich darin verlierst und nicht mehr absteigen willst. Nichts berührt Dich mehr, stundenlang. Für einen Moment gibt es nur den Moment, die Zeit verliert ihren Halt und findet nur zwischen Aus- und Einatmen statt. Dein Blick sieht alles und braucht es doch nicht, der Höhenweg wird immer so weiter laufen, und Du gehst ihn einfach entlang. Aus dem immer gleichen Gedanken, der Dich im Kreis herum beim Aufstieg gequält hat, entsteht ein sanfter Traum, den Du lange nichts hattest. Die Leere ist kein Nichts, sie ist etwas, das Dir das Nichts nimmt und Dich in den Arm nimmt. Dort oben und ohne einen Weg hinunter ins Tal. Sie bleibt oben und wird Dich wiederkennen, wenn Du sie besuchen kommst, aber sie wird Dir nicht hinunter folgen. Dort, wo alles vollgestellt ist mit Häusern und Seilbahnen und Strassen.

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Die Leere, weit oben von Harald Taglinger steht unter einer Creative Commons Namensnennung-Nicht-kommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Schweiz Lizenz.
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