Die Besteigung des Horns
Oder: Wie das Tabu des Bergs gebrochen und damit Unheil über das Dorf gebracht wurde
Die höchste Erhebung ist hier in der Gegend als das 'Horn' bekannt und auch heute nur gelegentlich in Karten eingetragen. Sie erfuhr ihre erste Besteigung im Jahr 1918 durch die Bergführer Andreas Meyer und Michael Winter. Beide stammen aus Wien und
hatten vorher das Tal nie besucht. Wäre es nicht zum Ersten Weltkrieg gekommen, hätten weder Bergführer Andreas Meyer noch Michael Winter eine Notwendigkeitgesehen, ihre Geschütze oben auf dem Gipfel des 'Horns' zu plazieren.
Die höchste Erhebung ist hier in der Gegend als das
'Horn' bekannt und auch heute nur gelegentlich in
Karten eingetragen. Sie erfuhr ihre erste Besteigung
im Jahr 1918 durch die Bergführer Andreas Meyer
und Michael Winter. Beide stammen aus Wien und
hatten vorher das Tal nie besucht. Wäre es nicht zum
Ersten Weltkrieg gekommen, hätten weder Bergführer
Andreas Meyer noch Michael Winter eine Notwendigkeit
gesehen, ihre Geschütze oben auf dem Gipfel
des 'Horns' zu plazieren. Ihnen war zwar aufgefallen,
dass dieser Berg selbst in Militärkarten mit kleinem
Massstab nicht eingezeichnet war, sie hielten dies
jedoch für nebensächlich.
Sie waren im Tal seit Monaten stationiert und dank
eines Maulesel-Zugs auf den umliegenden Bergen unterwegs.
Schlie§lich konnten sie den besagten Berg immer
vor sich sehen und waren deshalb sicher, die Spitze
gefahrlos über den Grat zu erreichen. Nach einem
anstrengenden aber erfolgreichen Aufstieg gelang es
ihnen am 12.9.1918 nachmittags um 13:15 Uhr insgesamt
17 Schuss in das italienische Munitionslager abzufeuern.
Erfreut verzeichneten sie die Detonationen
am dortigen Talgrund. Als sie jedoch spät nachts im
Siegesrausch das Wirtshaus des Tals erreichten, und
nach ihren Erzählungen eine jubelnde Dorfgemeinschaft
erwarteten, sahen sie sich einer wütenden Menge
gegenüber.
Aus den Rufen und Drohungen konnten sie fassungslos
entnehmen, dass es sich bei diesem Berg, den sie das
'Horn' getauft hatten, um eine Art von Heiligtum
handelte. Nie zuvor hatte ein Bewohner des Tals dieses
bestiegen. Im Dorf glaubte man vielmehr seit Urzeiten,
dass jeder frevelhaft auf den dortigen Felsen gesetzte
Fuss Unglück über alle seine Bewohner bringen würde.
Der hiesige Geistliche berichtete Anfang des vorigen
Jahrhunderts, dass einer seiner Vorgänger diesem
Aberglauben zu trotzen versuchte. Vor den entsetzten
Augen aller begann er mit dem Aufstieg, winkte lachend
immer wieder zu und gewann schnell an Höhe.
Als er sich jedoch kurz vor dem Gemeindewald wieder
umdrehte, um zu grüssen und so dem ganzen eine
heitere Note zu geben, verlor er das Gleichgewicht. Er
stürzte und stach dabei unglücklich mit einem Auge
in eine am Wegrand aufgestellte Madonnenfigur ein.
Sein Nachfolger versprach heilig, nichts dergleichen zu
unternehmen. Lange hatte niemand mehr versucht, auf
den Berg zu kommen. Unauffällig für Zureisende richtete
aber das Dorf in der Nacht des St. Hormoran eine
jährliche Wallfahrt zu einem kleinen Waldkirchlein
am Fusse des Berges so geschickt ein, dass man nicht
im mindesten die wahre Absicht des Treibens erraten
hätte. Hatten sich nämlich alle nach einem Zug hinüber
vor dem Gotteshäuslein versammelt, formierte sich
ein Kreis der Betenden und stimmte den Rosenkranz
an. Dieser wurde nun so unentwegt und inbrünstig angestimmt,
dass das Tal davon erscholl.
Unerkannt waren zwei ausgesuchte Burschen und
Mädchen aus dem Kreis gelassen worden, die nun in
Windeseile den unaussprechlichen Berg zu umrunden
hatten. Ihnen war es auferlegt, so rasch als möglich vier
Laternen entlang der Himmelsrichtungen zu entzünden
und dann eiligst vor Sonnenaufgang zu den Betenden
zurückzukehren. Gemeinsam zog die Gemeinschaft
dann am Morgen wieder im Dorf ein. Sie war
sich sicher, so Unheil, Krankheit und überschwemmung
abgewehrt zu haben. Und tatsächlich verzeichneten
die Chroniken dieser Zeit nicht einen Fall von
Pest oder Hochwasser.
Doch raunte man sich im Sommer 1918 ängstliche Befürchtungen
zu, schon vor dem unheilvollen 12. September,
als die Bergführer Andreas Meyer und Michael
Winter ihren fatalen Plan zum Beschusse des Gegners
durchführten.
In jener Nacht des St. Hormoran anno Domini 1918
nämlich waren von den vier Laternenträgern nur drei
wie erwartet wieder zu den Betenden gestossen, während
die Lisbeth auch nach weiterem Warten nicht
zurückkehrte. Bei Sonnenaufgang schickte der Bürgermeister
sorgenvoll zehn Männer in beiden Richtungen
um den Berg, die auch tatsächlich zur Stunde des 16.
Rosenkranzes eine grauenhafte Entdeckung machten.
Lisbeth lag geschändet und erschlagen nahe des Fallsees
im Moos.
Das Entsetzen im Dorf war gross und der Verdacht
entstand schnell, dass diese Schandtat nur von einem
der nahe stationierten Geschützsoldaten verübt worden
sein konnte. Auch intensivste Verhöre im Beisein
der aufgebrachten Menge ergaben nicht den leisesten
Anhaltspunkt. Die Wachen hatten niemanden gehen
und kommen bemerkt. Und auch unter den Soldaten
konnte keiner auch nur den kleinsten Hinweis geben.
So blieb die Tat ohne einen gefassten Täter. Das Dorf
trauerte um die Lisbeth und sorgte sich um die kommende
Zeit und den möglichen Groll des Berges.
Nur wenige Wochen später traten Bergführer Andreas
Meyer und Michael Winter freudig in die Stube des
Gasthauses und erzählten von ihrem Gipfelsturm. Aus
der drohend sich aufbauenden Schar der Männer im
Wirtshaus bahnte sich langsam der Vater von Lisbeth
den Weg nach vorne zu den verschreckten Bergführern
Andreas Meyer und Michael Winter, ballte seine Fäuste
und presste nur ein keuchendes 'Mörder' hervor.
Dann fiel er über die Bergführer Andreas Meyer und
Michael Winter her und schnitt beiden mit seinem
flugs gezückten Jagdmesser so behände die Kehlen auf,
dass die wackeren Männer schon tot waren, als sie noch
zu Boden sanken. Sodann wandte er sich zur entsetzten
Gemeinschaft um und stach sich die Waffe mit einem
'Lisbeth' mitten in sein linkes Ohrläppchen. Das erforderte
der Brauch.
Man wusste was zu tun war, der Wirt gab eine Freirunde.
Dann schaffte man die Soldaten in die Schlucht.
Einer lief am nächsten Morgen zur Kommandantur
und schilderte, er habe zwei zerfetzte Kanoniere
in einer Schlucht gefunden. 'Feindeinwirkung'.
So kam das Dorf mit dem Untergang der K&K Monarchie
noch einmal davon. Der Berg verschonte es
weiterhin mit Krankheit und Unheil. Doch nahm vor
allem seit 1958 die Zahl der Betenden ständig ab. Und
erstmals musste der Lauf der vier Jungen 1974 ausfallen.
Immer weniger konnte der Berg besänftigt werden.
Allerdings passierte abgesehen von ein paar Merkwürdigkeiten
in Wien auch wenig. So sehr die Alten auch
zeterten und flehten. Der Brauch erstarb. 1983 errichtete
die Alpenvereins-Sektion Bronnhausen ein Gipfelkreuz
auf dem 'Horn'.
Heute traut man sich auf den Berg. Sie setzen sich
auf seinen Gipfel, schauen noch einmal auf die Mühe
ihres Aufstiegs zurück. Verstehen, dass sie ihr Leben
in das Theater eines Anstiegs packen. Sie sehen die
Ruhe und den langsamen Fluss der Wolken, wie
diese über den Grat kommen. Sie verstehen, dass
all ihre Anstrengung sich dagegen ein wenig lächerlich
ausnimmt. Klar ist, dass der Berg sich nicht um sie
kümmert, nicht um sie sorgt. Sie sind zufrieden und
schauen ins Tal.
Die Besteigung des Horns von Harald Taglinger steht unter einer Creative Commons Namensnennung-Nicht-kommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Schweiz Lizenz. Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie unter http://taglinger.de erhalten.
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