Der Spalt

Was ist es, dass ich mich nicht in diese Kirchentüre hineintraue. Die, die hier auf dem Dorfplatz offen steht. Nur ein Spalt, der viel zu dunkel den Eingang anbietet. Aber ich bleibe davor stehen. Es lässt mich nicht hinein. Eine Dorfkirche in einem italienischen Alpendorf. Eine Erinnerung an vieles, das hier Zeitalter lang dauerte. Man sieht ihr an, dass das Gotteshaus aus einem anderen Jahrhundert stammt. Natürlich, heute bauen Alpendörfer keinen Kirchen mehr, sie bauen Lifte und einen Skiverleih. Sie lassen in Restaurants anstossen und in monatelang leerstehenden Ferienhäusern zur Ruhe kommen. Aber dieser Glockenturm stammt aus einer anderen Zeit, die Cremefarbe der Gemäuer verdeckt den alten Ziegel, in dessen dunklem Raum Rosenkränze und Messen, Fürbitten und der sonntägliche Segen gesprochen wurden. Er läutet noch immer die Zeit ein, aber er geht ein wenig nach.

Ich traue mich dort nicht hinein. Da drinnen fände ich eine andere Zeit, in der ich nicht mehr bin. Der Gang ins Dunkle würde mich zu weit zurückführen. Dort hinein gehen nur noch die Alten im Dorf. In 50 Häusern leben nicht einmal mehr fünf Dutzend von ihnen und erinnern sich an eine Zeit, in der die Kirche voller war und fünfmal mehr junge Menschen in weiteren 100 Häusern lebten. Das ist vorbei, heute spielen nur Gästekinder auf der Dorfrutsche, es findet in der Kirche keine Erstkommunion mehr statt. Der Trubel kommt und geht mit der Saison. Dazwischen wird es wieder still und überlässt dieser gottverdammten Kirche den Raum. Aber ich gehe nicht hinein. Heute, an diesem stillen Sonntag, der ohne eine Messe hier oben auskommt. Ich lasse mir von Peter auf dem Screen seiner Kamera ein Bild von ihrem Inneren zeigen. So wie man ein Museum besucht und darin einen alten Schinken nickend abhakt. Aha. Traumhaft. Schön, weiter. So barock zusammengewürfelt sieht es im Gotteshaus von Chamois aus. Interessant. Aber ich gehe nicht hinein. Das Dunkle hinter der Türe kommt mir alt und verlassen vor. Im Sommer ist es dort sicher angenehm kühl, es riecht noch nach Weihrauch. Jetzt ist es Herbst. Ich schüttle leise und fast unmerklich den Kopf und steige in die Gondel, die bald ins Tal fahren wird.

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Der Spalt von Harald Taglinger steht unter einer Creative Commons Namensnennung-Nicht-kommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Schweiz Lizenz.
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