Nachtfahrt mit der Gondel

Wir fuhren langsam schaukelnd von der Talstation in die Nacht hinein und wurden vom Zugseil nach nur wenig Beschleunigungsmetern rasch in Richtung Berg hinauf geholt. Wir waren uns sicher, dass es hinauf ging. Tagsüber konnte man das sehen, also mussten wir das jetzt nicht bezweifeln. Wir standen in der kalt beleuchteten Gondel und konnten nicht einen Meter hinaus in die Nacht sehen. Dort zog für alle, die nicht mit uns fuhren, eine lichtene Seilbahn rauschend vorbei. Sie konnte ja nur das Ziel haben, an ihrer Schwester nachts vorbeikommen und kurz vor der Bergstation leicht und dann stark abbremsend einzuschweben, um dann darin zur Ruhe zu kommen.
Wir standen im Licht und vermeinten nur durch das Pendeln, das wir in unseren Bäuchen zu spüren glaubten, zu bemerken, wie wir uns vorwärts bewegten. Kein vorbeiziehender Bergwald, keine nachlässig überquerte Felswand war draussen vor den nur das Innere spiegelnde Scheiben zu sehen. Eine Welt war da draussen vermutlich da, hatte sich in der Nacht nicht davon gemacht, so wie wir jetzt aus dem Tal. Mit dem einzigen Verkehrsmittel hinauf nach Chamois. Halbstündig eine Gondel, die andere in die Gegenrichtung ziehend. Hinauf ins Dorf, um sich schlafen zu legen oder hinab, weiter in das Tal einfahrend.
Ewige Minuten lang schwebten wir im Nichts, hatten keinen Anhaltspunkt, um auch nur eine Bewegung zu verzeichnen. Vielleicht waren wir nie wirklich weit hinauf gefahren, waren in der Mitte der Seillänge einfach sehr vorsichtig abgebremst worden und vermeinten jetzt immer noch unterwegs zu sein, während man in der Talstation niemanden mehr in der Gondel vermutet hatte und alle Schalter auf „Noche“ stellte. Vielleicht würden wir die ganze Nacht glauben, fast schon da zu sein, weil wir nur ein leises durch den Talwind verursachtes Schaukeln der Gondel als Bewegung bezeichneten. Das alles, während von draussen jemand in der Nacht uns fasziniert beobachtete, wie wir im Neonlicht des Gondelinneren aufrecht und in Erwartung dort gondelmittig und bereit standen, noch ein letztes Schaukeln der Bergstütze zu spüren und dann schon fast aussteigen zu können. Klopfschüttelnd würde dieser jemand sich ein Glas Wein einschenken und nur darauf warten, dass sich einer von uns langsam zu den anderen umdrehte und dann wie klärend eine Geste der Verständnislosigkeit zeigte. Darüber, dass es doch schon ziemlich lange dauere, dass man doch so viel Seillänge tagsüber gar nicht gesehen habe. Darüber dass etwas nicht stimmen könne. Dieser jemand würde dann schallend loslachen und sich dabei sachte etwas Wein auf seinen Oberschenkel schütten, es aber vor lauter Vergnügen nicht merken. Das konnte wir uns wirklich gut vorstellen, auch, dass wir uns ziemlich verärgert mit zunehmendem Warten echauffierten, denn unsere Geduld war für eine Fahrt durch die Nacht nicht gemacht. Es ging doch auch so schon los damit. Kein Anhaltspunkt wollte sich einstellen. Nur ein Stehen im Dunklen, vielleicht ein Fahren, aber vielleicht auch nicht, Noch konnte man wegen der Dunkelheit und weil man sich ja unterhalb des ersten Scheitelpunkts befand, nicht die Spur einer Bergstation sehen. Einer Station, die es vielleicht auch nicht gab, die es nie gegeben hatte. Die ganze Seilbahn war sicher nur ein Scherz oder eine unendliche Beruhigungsmaschine für die, die glaubten, man müsse regelmässig einmal im Jahr zum Dorf und den eigenen Grosseltern hinaufschauen können. Es gab sicher nicht einmal ein wirkliches Seil an der Bahn. Die Mühe hatte man sich gar nicht gemacht, das bildeten wir uns alle nur seit einem nachlässigen Blick an diesem Nachmittag ein. Und unvorsichtig waren wir in die Bahn gestiegen, ohne uns zu versichern.
Etwas von einer Unruhe machte sich in allen von uns breit, wir mussten alle in etwa das Gleiche gedacht haben, wie wir so weiter ins Dunkle starrten. Gerade noch rechtzeitig, bevor einer von uns die Notglocke betätige und so etwas wie "sehr witzig, jetzt steigen wir aber aus" in die Gegensprechanlage hineinbrüllen konnte, schrie der Erste "die Kirche oben ist beleuchtet" auf. Und wir näherten uns dem Crème brûlée farbenen Turm. Es ging also doch voran. Das da vorne musste die Bergstation sein. Weit weg von uns noch. Wir standen aufrecht und in eine Richtung blickend in der beleuchteten Gondel. Um uns herum war eine Dunkelheit. Weiter drüben: ein Mann mit Wein.

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Nachtfahrt mit der Gondel von Harald Taglinger steht unter einer Creative Commons Namensnennung-Nicht-kommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Schweiz Lizenz.
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