Farbe.

Türe auf, und Du standest direkt im Gang. Unendlich lange hallten dort unsere Schritte nach, das Linoleum unter unseren Füssen federte leicht, draussen tronte unberührt die Alpspitze vor uns, im Licht eines Sommertages. Hier herinnen war es immer ein wenig zu kühl. In der alten Wehrmachtskaserne waren meine beiden Grosstanten seit ihrer Zeit als Flüchtlinge untergebracht. Zwei Soldatenstuben als ihr Zuhause. Darin, in den 70ern, um 1972, an meinem sechsten Lebensjahr, betrieben sie ein Kleinhandwerk, um sich ihren Lebensunterhalt mit Änderungen und Schneiderarbeiten zu verdienen. Die Nähmaschine stand jeweils neben dem Schlafplatz, mehr als das konnten sie nicht tun, alles andere als das Surren der eingespanten Stoffe unter den Nähnadeln und eine kurze Nachruhe schienen unmöglich in den schlauchartigen Zimmern, deren hohe Fenster nach hinten hinaus zumindest den Blick auf den Kramer bei Garmisch frei liessen. Und es gab einen Fernseher auf einem Schrank im Zimmer der Älteren. Darin lief eines Nachmittags – wir kamen gerade vom Tollen aus den Gängen wieder herein, indem wir die schweren Türen schon fast alleine aufbrachten – die Liveübertragung der Olympischen Spiel von München. Erstmalig für mich in Farbe. Das war eine Sensation für uns, lenkte uns von den Bergen, die wir eben noch vor dem Haus so schön leuchten gesehen hatten, ab. Doch die Sendung schien gar nicht so fröhlich wie gehofft abzulaufen. Sie Erwachsenen sagten kein Wort, starrten auf eine merkwürdig sportlose Zeremonie. Wir konnten gerade beim Hereinkommen sehen, wie die Flammen im Olympiastadium gedrosselt wurden und man darüber die olympische Fahne auf Halbmast setzte. Schweigen im Raum. Auf meine Frage nach dem Warum dieser Trauer in greller TV Farbe sagte man mir, dass etwas in letzter Zeit passiert sei, böse Menschen die Olympiade überfallen hätten, viele Menschen umgebracht hatten und nun alle vielleicht abreisen würden. Ich sass da, am Boden vor dem Fernseher, hatte keinen Blick für den Kramer vor dem Fenster, hatte keine Ahnung, was man bei einem Überfall auf die Olympiade anrichten würde. Ich konnte mir die bösen Männer nicht vorstellen. Nur dass das Feuer weniger wurde, machte mir Angst, und dass alles vielleicht vorbei sein könnte. Auch dieser Urlaub vielleicht, vorzeitig. Schluss mit den Herumtollen in langen Gängen im Blick auf die hellen Berge. Schluss mit den Touren bis zum Nachmittag, um danach Sportler in Farbe zu sehen. Ich weiss nicht mehr, ob ich geweint habe. Ich weiss nur noch, dass der erste Farbfernseher meine Lebens mir Bilder zeigte, die nicht fröhlich waren. Dahinter schien es Schmerz zu geben. Und draussen gleissten die Farben des Kalksteins weiter in der Sonne. Aber dafür hatten wir an diesem Tag keinen Blick mehr. Die Jüngere der Großtanten wandte sich zu mir, sah mir in die Augen und meinte dann zu meinen Eltern, das sei doch nichts für mich. Das sei für niemanden etwas. Man solle doch lieber einen Spaziergang machen. Aber wohin sollten wir an diesem Nachmittag gehen? Es war zu spät für eine Bergtour und zu früh für ein Abendessen in der Stadt. Also sassen wir weiter da und liessen Weltgeschichte übertragen, assen dazu ein paar Nüsse. Die Erwachsenen tranken schmallippig einen Kaffee. Draussen vor der Türe, am Ende des Ganges, gab es ein grosses Adlerbild, das an den Greiffüssen des Tieres neuen Putz zeigte. So als hätte man ihm den Felsen wegretouchiert, auf dem er zu stehen gekommen war. So als hätte man den Tod von damals neu verputzt. Plötzlich spielte im Fernseher eine Melodie vor sich hin. Meine Mutter seufzte beim Klang des Trauerorchesters, dass es immer gegen die Juden ginge. Die Tanten meinten, sie seien ja auch Flüchtlinge. Draussen verschwand die Sonne hinter dem Kramer und machte den Berg zu einem Scherenschnitt.