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Gemsen kommen so nahe an das Haus hin


Das sei noch nie so gewesen, das Dorf sei nervös darüber. Die Gemsen kämen nun schon den zweiten Sommer bis halb ins Tal herunter und ästen unter den Seilbahnstützen. Jeden Morgen ständen sie pünktlich da, blickten ab und zu auf und starrten auf die Häuser, wenn sie das Gras der Dorfwiese okkupierten. Das sei der Klimawandel. Aber das kann doch nicht sein. Weiter oben an den Hängen steht nicht weniger für sie zu essen als hier neben den alten Getreidespeichern. Es gibt ein paar Seen weiter oben, und neben denen eine Menge an Gras und Kräutern. Es macht für die Tiere keinen Sinn, einmal am Tag den weiten Weg vom Felsplateau herunter zu kommen, sich durch die Wälder zu schlängeln und dann pünktlich vor dem Frühstück des Dorfes in der Sonne vor den Häusern zu äsen.

Sicher. Ein Wandel ist da, es hat sich etwas verändert. Die Tiere sind nicht zutraulich geworden, sie leiden weiter oben nicht an Hunger oder Durst, sie sind nur einfach näher und ignorieren doch das Dorf eindeutig. So als wollten sie sagen: "Wir kommen jetzt schon und nehmen wieder ein, was vor langer Zeit einmal ohne Euch auskam." So als würden sie sich auf den Abzug aller Menschen weiter hinunter ins Tal vorbereiten und sich bereits das Dorf wieder einverleiben.

Aber ich kann das Endzeitgeraune nicht mehr hören. Niemand geht aus dem Dorf. Keine Menschenleere droht. Sie sagen das sei noch nie so gewesen, ja, aber das heisst doch nicht, dass bald in Zukunft nichts mehr ist. Die Gemsen kommen in das Tal herunter, weil die Wanderer und Skifahrer im Gegenzug auf den Berg steigen und in ihrem Revier herumgondeln. Sie haben gelernt, dass ihnen erst im Herbst Gefahr droht, wenn man sie abschiessen und essen will. Aber im Sommer steht die Dorfwiese frei. Und manchmal fällt auch ein Apfel oder anderes Obst für sie ab, das die Alten heimlich unter die Seilbahnstützen legen. Das Leittier hat verstanden, es teilt mehr als dass es flieht. Und es nähert sich mit seiner Herde, weil es eigentlich sagen will: "Wir gehören zusammen, wir sind nichts, das ihr einfach esst und sonst nicht zu beachten braucht." Vielleicht ist es auch viel banaler als all das. Das Gras schmeckt wunderbar unter einer Seilbahn. Wer könnte hier widerstehen.