Der Sprung

In diesem Tal bleibt die Zeit an den Felsen kleben. Sie bewegt sich nicht einen Moment weiter. Nichts, das das Leben eindringen lassen würde. Kein Rascheln, kein Laut. Nicht einmal Wind. Der Tag ist stehengeblieben und faulenzt hinter einem der vor langer Zeit vom Berg gekullerten Felsen. Da liegt er neben dem achtlos verteilten Kies und den wenigen Moosen und Disteln, die es schon vor längerem hier herauf geschafft haben. Seitdem nichts mehr.

Nichts bewegt sich seit Stunden. Alles ist stehen geblieben. Und doch kann ich jetzt unvermittelt ein Rieseln vernehmen. Eine Gemse vielleicht, aber ich sehe sie nicht. Nur ein wenig Gipfel ist gefallen. Nicht viel, nur eine Schaufel voll, vielleicht. Unerheblich, aber vernehmbar. Die Uhren haben für einen Augenblick wieder angesetzt. So lange zumindest, bis auch der kleinste dieser Steine seine Lage von weiter oben wieder dort stabilisiert hat, wo er jetzt weitere Zeitalter zu liegen kommt.

Dann wieder nichts.

Hilde hat kurz vor dem Gipfelkreuz im Übergang zu einem Grat ihren linken Fuss genau auf den Block gesetzt, den bereits die anderen für einen guten Stand genutzt haben. Steil fällt hier der Berg ab. Weit unter ihr ist das Tal. Es werden gut vierhundert Höhenmeter bis zu seinem Grund sein. Von Hilde aus, die sich an einem Sicherungsseil hält und die nächsten Schritte ausmisst. Der Block löst sich. Er rauscht ins Tal. Hilde verliert den Stand, sackt weg. Nur ihre rechte Hand umklammert das Metallseil. Sie schreit nicht, sie reißt nur ihre Linke hin zur Seite und greift nach etwas. Die Füsse baumeln und zappeln, ihr Rücken dreht sich ganz zum Tal. Da ist nichts, die Sohlen stellen sich nicht auf etwas. Hilde zappelt und keucht. Starr steht die Gruppe, stiert sie an. Hilde zieht sich nach oben. Ein Fuß findet Fels. Weiter unten schlägt eine Gruppe von Steinen auf einem vorgelagerten Buckel auf. Still.

Hilde atmet aus, macht einen Ausfallschritt nach vorne und findet eine Ausbuchtung, um sich ganz aufzustellen und zur Ruhe zu kommen. Niemand bewegt sich. Hilde schaut für Augenblicke nach unten und krampft ihre Hände fester an den Halt. Sie kann nicht weiter gehen und ist doch ruhig, atmet einfach. Weiter unten quert eine Gemse das Geröllfeld und zerteilt den Nachmittag mit Schritten. Vorsichtig, sie wird davonhasten, wenn sie jemanden in ihrer Nähe wähnt.

"Ist alles in Ordnung... Hilde?"

Hilde nickt und folgt den anderen wortlos weiter bis zum Gipfel. Niemand blickt aus Scheu zu ihr zurück. Das Gipfelbuch hält alle Besucher seit 2006 fest. Es ist noch zu einem Drittel leer. Die Gruppe sagt nichts, einer reicht ihr aber Tee. Sie nimmt die Thermoskanne langsam zum Mund, dann nickt sie. Sie nickt noch einmal, trinkt wieder und schaut nach unten. Dort wo sie die Zeit zurückgelassen hat. Ich habe nur ein Rieseln und vielleicht ein einziges stärkeres Poltern gehört.

Die Zeit schlägt gleich danach wieder wie ein müder Vorhang übereinander. Ich bleibe weiter in der Sonne stehen und schaue auf einen der Gipfel. Das Tal hat mich aufgesogen. Endlos.

Hintergrundbild