Das Abenteuer des kleinen Mannes

Im Herbst 2012 nahm Harry Blum (Name geändert) an einer geführten Wandertour durch die Luchtaler Alpen teil. Blums Wanderung ist sowohl in einem Tagebuch, als auch in mehreren eMails an Kurt, einen Freund, dokumentiert. Seine Beobachtungen werden hier auszugsweise wiedergegeben. Blum lebt in einer Stadt im Norden.






> eMail vom 23.1.2012
Von: kurt@inter.de
Betreff: Re: Alpenurlaub?
An: harry@blum.de




Lieber Harry,
wenn Dir gestern am Küchentisch, wie Du schreibst, beim Abendbrot etwas fad&flau geworden ist, dann brauchst Du wohl doch ein Abenteuer. Das mit dem Alpenurlaub ist eine gute Idee! Wo sonst gibt's das noch, Abenteuer?
Gruss
Kurt

> eMail vom 4.5.2012
Von: harry@blum.de
Betreff: Re: Re: Alpenurlaub?
An: kurt@inter.de


Kurt,
Habe gebucht, eine Woche Luchtaler Alpen, 27.8. bis 4.9. bei der Bergschule Nimmermair. Brauche nur noch eine Ausrüstung. Gehe wohl zu Weltenbummler. Gruss (oder besser: Servus!)
Harry




>> Tagebuch 27.8.
Heute Aufstieg zur Munterbacher Hütte. Der Bergführer (Franz) geht vorweg. Nach 3 Wegstunden dann: Nebel. Sicht etwa 10m, und das auf über 2000 m/üNN. Haben uns verlaufen. Alles sieht gleich aus. Franz flucht und sucht nach den weiss-roten Wegmarken oder den so genannten "Steinmännchen". Nach einer Stunde dann grosse Erleichterung. Die Hütte taucht aus dem Nebel auf und wir sind da. Abends sitze ich bei den anderen am Tisch, bierselige Stimmung. Wir haben's ja grad noch geschafft, sagt G., einer aus meiner Gruppe, der nach eigener Aussage schon "so Einiges" am Berg erlebt hat. Am Nachbartisch wird man hellhörig. Ein Mittfünfziger in grünem Fleecepulli mischt sich ein: Wir hätten grosses Glück gehabt, sowas könne bös' ins Auge gehen. Der Hüttenwirt poliert Gläser und tippt auf dem Display seiner Computerkasse. Nebenbei checkt er eMails auf seinem Telefon. Carmen, eine Studentin aus Munterbach, die auf der Hütte aushilft, blättert in der Gala. Gehe früh zu Bett, draussen ist der Himmel sternenklar.

> Tagebuch 28.8.
Franz zeigt uns heute bei der Hütte "richtiges Gehen" im Gelände. Man solle den Fuss möglichst so setzen, dass er fest auf dem Boden aufkommt. Das verringere das Risiko, abzurutschen. Auf Steinen zum Beispiel. Gebe mir grosse Mühe. Wir gehen um die Hütte, eine Runde nach der nächsten. Franz ist irgendwann zufrieden. G. rutscht andauernd aus, meckert und gibt seinen Schuhen die Schuld. Was ist eine "Vibram-Sohle"? Nachmittags sollen wir auf den Hausberg.

Nachmittag: Mussten auf dem Weg zum Gipfel durch ein Geröllfeld, etwa 100m. G. knickt um und will lieber nicht mehr weiter. Die Schuhe seien halt nicht optimal für das Gelände. Franz schickt ihn zurück zur Hütte, die unterhalb des Hausbergs liegt. Abends dann wieder Hüttenzauber, Carmen sitzt bei uns am Tisch. G. hat seinen Fuss auf einen Stuhl ausgestreckt, kühlt den Knöchel mit dickem Eisbeutel und erzählt, wie er sich den Berg hinabgekämpft habe. Carmen fragt, was ich beruflich mache. Der Mittfünziger von gestern entpuppt sich als Chef der Sektion Munterbach, Alpenverein. Böse Sache sei das, sich so zu verletzen, sagt er. Viele unterschätzten so ein Geröllfeld. G. bestellt noch ein Bier. Carmen spielt mit anderen Jenga.

> Tagebuch 01.09.
Auf dem Weg zur Augustusburger Hütte grosses Geschrei von vorne. Auf dem Grat ist H. ausgerutscht und hängt nur mit einer Hand am Seil. Unter ihr der Abgrund. H. ist nicht in meiner Gruppe, aber sie gehört zum Alpenverein, Sektion Munterbach. Wir holen sie ein. Mit einer Handbewegung signalisiert sie uns: alles nicht dramatisch. Und geht weiter Richtung Hütte. Ihr nach folgen zwei Frauen, die etwas blass sind. G. fängt an, eine Geschichte zu erzählen, wie ihm was ganz ähnliches passiert sei. Da hätte er auch noch keinen Kurs "Gehen am Seil" gemacht. Franz filmt für den im Prospekt versprochenen Videofilm zur Wanderwoche. Nachmittags kommen wir auf der Hütte an. H. sitzt schon bei einem Stück Kuchen und einem Bier. G. setzt sich zu ihr, beginnt ein Gespräch, das schnell auf das Thema Schuhe kommt. Ich blättere in einem Katalog von Weltenbummler, der irgendwie den Weg hier hoch gefunden hat, finde die Schuhe von G. sehr teuer. Am Nebentisch erzählt jemand, er sei heute von Gemsen verfolgt worden. Morgen müssen wir wieder zurück zur Ausgangshütte.

> Tagebuch 02.09.
Eingeschneit. über Nacht. Wir kommen heute nicht weg. Tja, wenn wir Steigeisen hätten, sinniert G., und Franz telefoniert mit seinem Büro in Unterbach. D. eine jüngere Frau aus unserer Gruppe, fragt besorgt, ob die Klimaerwärmung für die Situation verantwortlich sein könne.

> Tagebuch 03.09.
Letzter Abend vor dem Abstieg. Wir sind seit heute Nachmittag wieder zurück auf der Munterbacher Hütte. Franz nahm mit uns einen kurzen Umweg über die Marsleitner-Scharte. Von dort hat man einen herrlichen Blick ins Luchtal. G. und D. haben sich etwas angefreundet, D. will auch den Kurs "Gehen am Seil" machen. G. ist nicht ganz schwindelfrei und muss auf der Scharte von D. gestützt werden. Jetzt, abends beim Abschlussgoulasch, reden wir von den Leitern über die Scharte und G. erzählt, dass er im Wallis mal eine Stelle hatte, wo die Leitern über 30 Meter hinab führten. Hinter mir höre ich zwei Bauarbeiter über Fussball reden. Sie arbeiten an den Skiliftanlagen im Nachbartal und gehen Tag für Tag über die Scharte zur Arbeit.