In der Zeit stecken
Warum komme ich aus diesem Haus nicht mehr heraus? An den Sonnenaufgängen kann es nicht
liegen. Es pfeift die gleiche Amsel vor meinem Zimmer, es rauschen die gleichen Bäume am
Fenster und der Lärm von der Strasse und den Schienen kommt mir auch morgens schon bekannt
vor. Das alles klingt so vertraut wie immer, ganz gleich wo ich in meinem Leben mich nieder ließ.
Trotzdem komme ich hier nicht uüber ein vorsichtiges öffnen der Aufen hinaus. Lange Zeit liege ich
im Morgenlicht und rühre mich wenig. Spiele den Schlaf der Nacht nach. Lasse mir von aussen
gesehen nicht die ersten wachen Momente des Tages anmerken. Ich will aufspringen und nach
einer Katzenwäsche aus dem Zimmer hinunter in den Garten rennen. So wie in den Sommerferien
meiner Kindheit. Aber hier bin ich in einer Schleife gelandet, die mich von Tagesbeginn an kraftlos
macht. Jeden Tag mehr. Ich verweile, ich tändele, ich lasse mich nicht aufkommen.
Es mag, so dämmert es mir, an der Grösse des Bettes liegen, daran dass man vor dem anderen
Fenster einen so schönen Berg sehen kann, dass ich mich alleine vom Wissen um seine stille
Anwesenheit gefangen nehmen lasse. Oder ist es die schon jetzt wieder in mir realisierte
Ausdehnung eines Hauses, das mit seinen dreissig hochherrschaftlichen Zimmern und den langen
Zimmerfluchten um einiges grösser als ich daher kommt, mich zum Kind schrumpfen lässt. Die
pure Beharrungskraft der morsch riechenden Gemäuer lässt mich auf der Matratze bleiben, so
scheint es mir, die Höhe der Zimmer drückt mich in das Kissen zurück. Hier, so sagen es mir die
mich kraftlos anzeigenden Spiegel an der Waschecke, soll ich gar nicht mehr hinaus kommen. Das
Haus frisst mich, würgt mich nur noch für die kurze Zeit des Abendessens gegenüber vom Haus
hervor, nur um mich dann wieder für eine unendliche Nacht und einen langen Morgen zu
verschlingen.
Ich soll nicht einfach davon laufen können, ich soll mich nicht einmal in den Garten bewegen, ich
soll - gleich dem Platz an der Brust einer vereinnahmenden Mutter - immer ganz nah, eher innen
bleiben und aus der Zeit heraus fallen. Zusammen und vereint. draussen mag die Welt ein
bisschen weiter gehen, aber ich soll beim langweiligen Spiel des Vergehens und schliesslichen
Verrottens Gesellschaft leisten. Nicht um meiner selbst Willen. Vielmehr bin ich das Assecoire
eines Hauses, das nur so lange gastfreundlich tut, bis es es mich umschlungen und ruhig gestellt
hat. Danach ruht es wieder mit mir im Magen und verdaut mich wie das anfangs noch wild
zappelnde Tier, nährt sich an mir über eine lange Zeit hinweg. Bis zum nächsten Gast.
Ich werde hier nie wieder abreisen können.
An meinem ersten Tag hat man mich noch gewähren lassen. Ich konnte frei und unbekümmert
umher laufen und erkunden. In allen Stockwerken. Im Ergeschoss, eine Küche und ein Speisesaal,
zwei Aufenthaltszimmer und ein Salon mit der Türe zur zerfallenden Veranda. Der erste Stock mit
den Duschen und einem halben Dutzend an Doppelzimmern, alle offen stehend und leer. Die
Stockwerke darüber bis zu dem mit meinem Raum gleichen sich fehlerlos und spielen sich immer
gleichförmiger wieder und wieder nach. Wie überrascht ich war, durch das simple Ende des
Treppenhauses einer Sackgasse gleich im Dachboden zu stehen und nicht mehr eine neue
Abfolge des Gleichen zu sehen, nur einen letzten Raum als Abstellfläche mit der Treppe auf die
Seite des Daches. Und in meinem Zimmer zurück dann die Mandelbrotmenge einer Einrichtung zu
finden, die in allem sich selbst nur widerspiegelt und einzig und alleine dazu angelegt scheint, mich
innèrhalb des Raumes zu halten. Im Wissen der endlos wirkenden Wiederholung anderer Räume
im Gang, die die Entfernung bis zur Ausgangspforte schier unendlich erscheinen lassen soll.
Unüberwindbar, also bleibe ich lieber in meinem Bett liegen, wundere mich über den freundlichen
Sonnenschein, der das Tal vor dem Fenster erwärmt, und drehe mich mühsam so, dass ich
geradewegs zu einer schneeweissen Zimmerdecke starren kann. Stundenlang.
Vor einer Woche habe ich noch versucht, schon am Vorabend die Koffer zu packen, habe mir
vorgenommen, mit dem Schrillen meines Reiseweckers aufzuspringen und mir nur kurz etwas für
meine Abreise überzuwerfen. Ich habe mir vorgenommen, nicht einen Blick im Gang zu
verschwenden und schnell mit hastigen Schritten am Seitenausgang auf die Strasse hin zum
Bahnhof zu kommen. Ich dachte mir, dass ich mit nur ein wenig Konzentration dem Blick zurück
entgegen könnte und schon nach wenigen hundert Metern dem Haus einfach entfliehen würde.
Die Batterien des Reiseweckers haben in der Zwischenzeit längst aufgegeben, sie können den
Weckton nicht tagelang aufrecht erhalten. Liegengeblieben bin ich, lebe wieder aus dem Koffer,
den ich eigentlich packte, brauche nur ein wenig Wäsche, wenn ich den ganzen Tag im Bett auf
der Strecke bleibe. Wohin auch. Ich kann mich auch nicht mehr an den Bahnhof erinnern. Wenn es
im Haus ein Restaurant gäbe, wären auch alle Bilder von Speisekarten im Ort aus meiner
Erinnerung getilgt.
Das Haus ist eine defekte Zeitmaschine, deren Zählwerk nach nur einer Umdrehung wieder genau
dort einrastet, wo es das Leben weiter führen wollte. Die Zeit kann mich so nicht mehr ermahnend
vorantreiben, sie hat mich hier mit Blick auf das Tal verloren. Sie hat mich abgelegt in einem zu
grossen Bett aus einem vergangenen Jahrhundert, sie wird mir keine Hand reichen, um noch vor
dem Zerfall der Hauptmauern das Weite zu suchen. Die Zeit und das Haus kennen sich, haben
sich verschworen und lassen mich zwischen ihnen versinken. Und ich schlage die Augen wieder
zu, weiss dass beide auch so noch um mich herum sind. aber nicht, um mir zu helfen. Ich bin die
Fliege im Netz von Spinnen, ich bin eines der Opfer, die es miniaturisiert noch einmal am Balkon
gibt. Dort könnte ich ein verpupptes Insekt im Wind schaukeln sehen, weil es sich in die von
Türecke zu Ecke gespannten Fäden verflog. Aber ich will das nicht sehen, ich will meine Augen
geschlossen halten. Noch atme ich, noch kann ich vom Schlaf zurück in einen wachen Moment
finden. Da ist noch Raum, da ist noch
In der Zeit stecken von Harald Taglinger steht unter einer Creative Commons Namensnennung-Nicht-kommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Schweiz Lizenz. Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie unter http://taglinger.ch erhalten.
Alpgenossen: Hunziker Peter - Kammerl Utto - Krüger Gunnar - Mühe Andreas - Locker Anatol - Stenkhoff Pit - Taglinger Harald - Wenz Florian
Alpgänger & Unterstützer:
Bernet Marcel - Böhler Marc - Bolliger Daniela - Cohn William - Ebener Andrea - Eichhorn Sepp - Exinger Peter - Ferreira dos Santos Marcio - Fischer Ralph - Frey Sang Andreas - Gassert Hannes - Hack Guenter - Haltiner Miriam - Hettche Thomas - Hugo-Lötscher Susanne - Hutter Ralph - Jehl Iska - Jung Matthias - Recht Regina - Ringel Ute - Ruoff Andreas - Scharmberg Genua - Schimkat Alexander - Schmetterer Wolfgang - Steiner Edmund/Marianne - Völker Stefan - Wichmann Dominik
|