Der Duft des Lebens

In Zimmer 14 wohnt ein Aufrührer. Einer, der Unruhe in das Haus bringt. Seit Jahren ist er immer im Sommer Gast, hat sich bisher tadellos benommen und den Frieden im Haus nicht gestört. Kein Laut kam bisher aus seinem Erdgeschosszimmer. Früh ging er nach seinen Wanderungen ins Bett, stand morgens zeitig auf und verliess wieder das Haus. Er grüsste stets freundlich, wenn man ihm doch auf dem Weg zur Etagendusche begegnete. Sonst: eher ein Schatten in den langen Zimmerfluchten. Das mag man hier.

Aber seit diesem Sommer änderte sich das.

Arno Meier öffnete am zweiten Ferienmorgen den mitgebrachten Schrankkoffer und klappte mit einem Lächeln die grossflächigem Seitentüren auf. Er freute sich an den vielen kleinen Fläschchen in edler Verpackung, die da in den einzelnen Seitenschlaufen steckten, und kontrollierte noch einmal die akribisch erstellten Aufschriften. Wunderbar, keine von ihnen, weder die eher empfindlichen Behältnisse noch deren feine Beschilderungen, hatten durch die Anreise mittels Zug und den doch recht langen Gang zur Villa gelitten. Alles war an seinem Platz und sah schmuck aus. Ganz so, wie Arno es sich gewünscht hatte. Er lächelte zufrieden und wandte sich dem Femster zum Garten zu. Das reichte bis zum Boden und hatte als Balkontüre die Funktion geöffnet zu werden und frei den Gang hinaus zu ermöglichen, wo es nach einem für drei Stühle und ein Bistrotischchen austeichenden Podest aus Kalkstein und einer kleinen Umzäunung mittels Treppe direkt in den Hof der Auffahrt führte. Er griff in die Mitte des Schrankkoffers und holte die drei gemalten Schilder, sowie den Dekostoff aus leichter Gaze hervor. Er rückte die Paravans des Zimmers so zurecht, dass sich nun mit ein paar wenigen Griffen die Dekoration am Paravan und hinter dem Koffer herum schlang, den Rest des Zimmers gut vor Blicken durch die Balkontüre abdeckte und so eine Art von begehbarem Schaukasten erzeugte, wollte man sich vom Hof über die Treppe hin zu dem Tischchen mit den drei Stühlen und sogar hinein in das Zimmer von Arno Meier bewegen. Dann nahm er nach einem weiteren zufriedenen Nicken die Schilder, auf denen "Arnos Lebensgeister" stand. Er klemmte das grösste der drei über die weit geöffnete Balkontüre und fixierte es dort gegen eventuell aufkommende Windstösse. Dann trat er vom Stuhl herunter und drei Schritte zurück, las noch einmal lächelnd, was er da eben angebracht hatte, ging über das knirschende Kies des Hofes mit den anderen beiden eher pfeilartig zurechtgeschnittenen Schildern zuerst zur Grillecke hinüber, richtete dort an den Aussenkerzenhaltern des Sommerpavillons das eine Schild genau auf sein Zimmerpodest, ging dann mit dem anderen zur Einfahrt, wo er den zweiten Pfeil ziemlich exakt auf die Grillecke ausrichtete. Niemand war im Hof zu sehen, und so war es wieder aber auch alleine Arno, der zufrieden nickte und sich die gelungene Wegführung hin zu seinem Schrankkoffer vor den Paravans anschaute.

Als er das knirschende Kies unter seine gehenden Füssen zurück spürte, war ihm klar, dass jetzt der Moment für die Eröffnung gekommen sein musste. Und dass die geöffneten Fläschchen alles andere für ihn erledigen würden. Es war ihm klar, dass er nun den grössten Teil seiner Arbeit getan hatte, denn wenn seine Idee griff, dann würden alle im Haus nun wie von selbst in den Hof und zu ihm und seinem Zimmer gezogen werden.

Behutsam entschärfte er in einer gewissen Aufregung Verschluss um Verschluss der mitgeführten Fläschchen Ein betörender Duft um den anderen reicherte die Luft an und setzte sich weit um den Schrankkoffer herum fort. Man konnte Vanille riechen und Sandelholz, es roch nach frisch gebackenen Köstlichkeiten und nach dem Nacken einer freudig tanzenden Schönheit, es roch nach jauchzenden Kindern und eng umschlungenen Liebespaaren, es roch nach dem zartesten Kuss inmitten eines lauwarmen Sommeregens und dem tosenden Gelächter an einem gemeinsamen Tisch. Es roch nach Zufriedeneheit und der Lust, morgens nur mit einer Zeitung unter dem Arm im Lieblingscafˇ seine erste Bestellung zu tätigen und dabei ein Lächeln zu erhalten. All das quoll aus den kleinen Fläschchen und war weiter und weiter hinaus aus dem Zimmer von Arno Meier zu bemerken. Konzentrisch schwebten Düfte weiter, die man so lange in diesem alten Gemäuer vermisst hatte. Arno stand einfach davor und liess mit einem langen, tiefen Einatmen die Hände halbhoch ausgebreitet stehen. Leben. Das war Leben. Es roch nach dem ersten Schluck Holundersirup nach einer langen Wanderung und nach den Handflächen des Vaters, wenn man sich fest an ihn schmiegte, es roch nach einer durchtanzten Nacht und dem Gang mit Tausenden von Menschen in ein lang erwartetes Konzert. Arno konnte die überreichung seiner Diplome riechen und seinen ersten Tag am Strand. Er spürte den Markt mit allen frischen Früchten im Süden wieder und konnte die schweren Weine schmecken, die er immer nur mit einem guten Buch in der Hand trank. Er schnupperte selig in Weihnachtsessen und spürte den Duft einer Seilbahn, die ihn gleich auf die Pisten bringen würde. Die Augen schlossen sich, und um ihn herum schlangen sich leise die Arme diese dunkelblonden Frau, es strich die Katze um seine Beine und es war ihm als würde ihm gerade jemand ein wunderbares toskanisches Gebäck in den Mund schieben. Das Leben war so angekommen und wieder eingekehrt in das so ruhig und nur morsch riechende Erdgeschoss Zimmer.

"Machen sie das sofort zu."

Arno riss erstaunt beim Klang der schneidend kalten Stimme die Augen auf. Da stand diese ältere Frau vor ihm und hatte einen versteinerten Gesichtsausdruck zu bieten. Mehr nicht. Das heisst: so alt war diese Frau vielleicht gar nicht. Arno schätzte sie auf höchstens Mitte Vierzig. Aber etwas an ihr sah erkaltet und geruchslos aus. Das heisst: sie schien im gar nicht mit versteinerter Miene, sondern hatte eher einen unterschwellig wütenden Ausdruck aufgesetzt. Das heisst: sie war es nicht alleine, die geruchslos und unfreundlich vor ihm stand. Als Arno im Stillen durchzählte, schien es ihm, dass sich fast alle Gäste des Hauses vollzählig hinter dieser Frau versammelt hatten und in der Art ihrer Formation der Sprecherin wie Recht gaben, ihr Denken einfach nur aussprechen liessen.

Zumachen also. Wie wegsperren. Die Flaschen verschliessen und das Leben wieder einfangen und wegtun.

Immerhin: Die Schilder vom Eingang über die Geillecke bis hin von seinem Hofeingang zu seinem Zimmer schienen funktioniert zu haben. Sie lockten an. Oder war es der Duft allein. Das Leben, zu riechen in allen Facetten, unabänderlich anziehend. So wie das Licht keiner Motte eine Chance zu lassen scheint. ägnlich feindlich jedoch. Arno sah sich einer Front gegenüber, weniger einer Kundschaft, die vielleicht das eine oder andere Fläschchen zu erstehen trachtete.

"Sie machen das sofort zu. Wir wollen das nicht."

Wohl zwecklos, ein Sonderangebot anzupreisen, soviel schien Arno klar.

"Wir holen die Polizei."

"Gehen sie. Schnell."

Andere Stimmen mischten sich vor allem von denen weiter hinten ein. Sie klangen erhitzt, aufgeheizt, kochend, sie drängten Arno Meier immer weiter auf seinen Schrankkoffer zu. Er hörte hinter seinem Rücken schon das klirrende Anstossen der ersten Fläschchen.

 

Creative Commons Lizenzvertrag
Der Duft des Lebens von Harald Taglinger steht unter einer Creative Commons Namensnennung-Nicht-kommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Schweiz Lizenz.
Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie unter http://taglinger.ch erhalten.



Alpgenossen:
Hunziker Peter - Kammerl Utto - Krüger Gunnar - Mühe Andreas - Locker Anatol - Stenkhoff Pit - Taglinger Harald - Wenz Florian

Alpgänger & Unterstützer:
Bernet Marcel - Böhler Marc - Bolliger Daniela - Cohn William - Ebener Andrea - Eichhorn Sepp - Exinger Peter - Ferreira dos Santos Marcio - Fischer Ralph - Frey Sang Andreas - Gassert Hannes - Hack Guenter - Haltiner Miriam - Hettche Thomas - Hugo-Lötscher Susanne - Hutter Ralph - Jehl Iska - Jung Matthias - Recht Regina - Ringel Ute - Ruoff Andreas - Scharmberg Genua - Schimkat Alexander - Schmetterer Wolfgang - Steiner Edmund/Marianne - Völker Stefan - Wichmann Dominik




Alp auf einer Karte
Alp und seine Freunde
Alp und die Welt
Alp als Bewegtbild

Genossenschaft Alpgang
Alpgang
Talschaft
Alp Archiv

Kontakt zu Alp