Guidebook für Arkadien

Was tun, wenn das Staatsoberhaupt eines Landes richtig ausspannen muss und bisher kein geeignetes Objekt zur Verfügung steht. Ein Sommersitz muss her, der abseits von allen Städten am besten in einem einsamen Bergtal angelegt werden sollte. Leicht erhöht vielleicht, der Aussicht und der Bedeutung wegen. Zweck dieser Skizze ist eine erste Orientierung über notwendige Massnahmen zur Erstellung und Aufrechterhaltung eines solchen Sommersitzes für Alleinregierende. Die folgenden Ausführungen verstehen sich als grundsätzliche Anmerkungen, die weiterer Verfeinerung in der Durchführung bedürfen.

1. Areal
Das ganze Areal besteht aus einem an mindestens drei Seiten abgeschlossenen und von aussen nicht gut einsehbaren Bergkessel. Auf eine angemessene Bewachung des Kessels, die unbemerkt vom Alleinregierenden (im weiteren Verlauf "A." genannt) stattfinden kann, soll hier hingewiesen werden. Die randstelligen Bergketten sollen dabei nicht über 3000 Meter über den Meeresspiegel reichen, um keine allzu extremen Eindrücke oder gar Wetterumbrüche zu erhalten. Zur weiteren Ausstattung gehören ein tiefblauer Bergsee, dessen Abschluss oder wahlweise auch der Ausläufer eines Gletschers, dessen zweiter Arm in einem Seitental verschwindet. Von Vorteil ist mit Sicherheit ein kleines Bergdorf rechterhand. Es kann sich dabei auch um die Ansammlung von ein bis zwei Weilern handeln. Weniger wichtig sind dabei dessen Einwohner, die bei mangelndem Vorkommen auch aus Dörfern umgesiedelt werden können. Sie sind dabei gleich pfleglich zu behandeln wie das unbedingt vorzuweisende Rotwild. Also schonend und in überwiegendem Freilauf. In der vorhandenen Fachliteratur raten die Experten übereinstimmend davon ab, deren ursprüngliche Rückzugsgebiete zu belassen. Stattdessen ist der Neubau einer Bestallung (im Falle von Rotwild) oder eines Gemeindezentrums (Bevölkerung) zu empfehlen.

2. Anbindung
Die Zubringerstrasse in den Talkessel sollte dabei höchstens eng zweispurig angelegt sein, um ein massenhaftes Vordringen zu "A." zu verhindern. Parkplätze sind au§erhalb der Sichtweite der Terrassen möglich. Eine Eisenbahn scheint dabei aber wenig produktiv zu sein, denn Besucherströme sind vor dem Eingang des Tals abzufangen und mit einer Wanderausstellung abzuspeisen. Es bleibt abzuwägen, ob die Lage an einer Landesgrenze auf der einen Seite nicht eine für das Volk ungünstige Anbindung bieten könnte. Auf der anderen Seite ist die Gefahr eines plötzlichen Einmarsches durch die Armee des Nachbarlandes genau in dieser Region nicht zu unterschätzen. Staatsoberhäupter sind in jedem Falle gerade zu Urlaubszeiten gesondert zu schützen.

3. Szenario
Wenn an einem Morgen "A." von seinem Frühstücksraum aus zum See hinunter schaut und dabei ein Frühstücksei köpft, soll er das Gefühl haben, einen neuen Tag im Garten Eden zu beginnen. Wir erzeugen Unschuld als Erholungsfaktor. Die Fenster vor seinem Frühstückstisch können dabei geöffnet sein, denn kein unnötiges Geräusch wird zu vernehmen sein. Das Rauschen des Gebirgsbaches, der vor dem Anwesen vorbei plätschert, wird den einen oder anderen unnötigen Schrei der Anwohner überdecken. Idealerweise schreiben Anwohner nie.

4. Garten Eden
Die Kunst der Gestaltung besteht darin, diese Wildnis wie einen Garten aussehen zu lassen, und den Garten strukturiert zu verwildern. Denn vom Zimmer des Obersten ausgesehen sollte alles so scheinen, als wäre das Tal in allen Jahrhunderten so belassen worden. Allerdings handelt es sich hier um gekonnt vorgenommene Pflanzungen, so wie auch in Naturparks immer wieder der Eindruck aufkommen kann, es handele sich hier noch um ursprüngliche belassene Landschaft.

5. Kunst
Wir wollen das Tal mit kleinen, aber sehr wichtigen Kunsteinrichtungen versehen, diejenigen, die Natur gerade soweit hervor stechen lassen, dass sie in einem Gleichgewicht mit den künstlichen Einrichtungen steht. Wie in einem Park mitteleuropäischer Könige sind dabei kleine, versteckte Annehmlichkeiten die Kunst des Ganzen. So reicht es nicht, einen See zu platzieren. Es bedarf vielmehr auch einer kleinen Kapelle, deren Aussehen Weltruhm besitzt. Und diese Kapelle hat einem Ort zu stehen, der nur vom Arbeitsraum von "A." aus diesen weltberühmten Blick darauf ermöglicht. Es ist auch denkbar, eine Form der ungewöhnlichen Mobilität in den Wäldern zu verstecken. Etwa eine Rodelbahn, oder auch eine Standseilbahn, die vom Vorplatz des Sommersitzes direkt zu einem Kiosk führt. Man beachte allerdings eventuelle Höhenangst von "A.".

6. Abgeschlossenheit
Das ganze Areal kann nur wirken, wenn alle Berge die Landschaft nach au§en komplett absperren. Kein Anblick der dahinterliegenden Ebene darf zu sehen sein. Es muss für "A." so scheinen, als ob sie sich ihm so darbieten will, als wäre der Talkessel das einzig existierende der Welt. Dieses Tal ist ein scheinbar ewiges Zwischenreich. Es wird muss nicht regiert werden von "A." den es entspricht ihm offensichtlich ganz. Das ist das komplette Geheimnis dieses Sommersitzes. Es befindet sich au§erhalb jeglicher Notwendigkeit, eine Regierung dafür zu bilden.

Nur wenn "A." in dieser überschaubaren Welt das Gefühl erhält, dass alles in Ordnung und in der Ausgewogenheit einer Landschaft stehe, dann kann er sich darin erholen. Dass au§erhalb dieses Talkessel die Welt hungert, oder sich im Krieg befindet, oder massenweise stirbt, soll ihn an diesen Tagen nicht stören. Es ist nicht die Aufgabe dieses Talkessels, die Realität der Welt zu zeigen. Es ist vielmehr die Aufgabe dieses Talkessel, nur eine einzige Person, wegen derer diese Landschaft gestaltet wurde, in einen Zustand der Unbeschwertheit zu führen. Daran hat eine ganze Region mitzuwirken.

7. Schutz
"A." dankt für diese Erholung damit, dass er die Menschen in diesem Areal schützt. Er schützt sie, nachdem er sie ausgewählt hat. Er schützt und fördert sie, damit sie auch weiterhin wirken, als hätte sie ein Landschaftsmaler an die richtige Stelle gesetzt. "A." hat kein Interesse an den einzelnen Personen, er sucht die Bevölkerung als integrales Bestandteil des Landschaftsbildes. Sie haben sich ihm zuzuwenden und ihn zu grü§en. Alle anderen äu§erungen sind für "A." nicht von Interesse.

Was für den "A." wichtig und erholsam ist, soll auch für seine Untergebenen und Angestellten zur Verfügung stehen. Das Tal wird weitergeführt, sobald "A." in die Hauptstadt fährt. Das Tal hat sein Schauspiel weiter zu bieten. Das Tal wird nie wieder in den Zustand seiner Ursprünglichkeit zurückfinden, auch wenn "A." nie wieder dieses Tal besuchen sollte. Allein die Möglichkeit, dass "A." zurückkehren könnte, bindet das Tal an seine Rolle. Es wird somit staatstragend.

8. Undenkbares Szenario
An einem Morgen im August geht "A." nach seinem Frühstückstisch zu Fu§ und nur begleitet von den wenigsten seiner Getreuen in das Tal hinunter. Er hat bereits die Talsohle erreicht und ist nur wenige Schritte vom See entfernt, als er unversehens über einen achtlos fallen gelassenen Eimer stolpert, der ihm während seines Spaziergangs dahin bisher nicht aufgefallen war. Noch im Torkeln schreit er auf und verlangt, dass die schuldige Person vorgeführt werden soll. Sofort. Es handelt sich dabei um eine alte Frau, die ihre Rolle gemä§ jeden Morgen Wasser aus dem See zu holen hat, dabei aber stürzt, und ärztlich versorgt werden muss. Man hat in der Eile vergessen, den Eimer voller Wasser beiseite zu stellen. Zum einen kann der Frau klar eine Mitschuld attestiert werden, denn nur jede Unachtsamkeit verbunden mit ihren Schwächeanfällen führt zum Stolpern von "A.". Aber auch den Sanitätern sei eine Mitschuld anzurechnen. Nur durch ihre schnelle Versorgung und deren Unachtsamkeit, die eigentlich nicht in ihren Prozessen abgebildet ist, kann es zu diesem Eimer kommen. "A." ist deshalb dazu gezwungen, alle Beteiligten hinrichten zu lassen. Den Sanitäter und die alte Frau. Das geschieht nicht in seiner Anwesenheit. Aber dieser Tag kann als nicht erholend abgetan werden und ist eine Katastrophe. Selbst das mehrmalige Abhören seines Lieblingskomponisten von seiner Lieblingsbank mit Blick auf die majestätische Bergwelt will ihn nicht zur Ruhe kommen lassen. Man erwägt zusätzliche Hinrichtungen, aber "A." wird bald schon wieder in der Hauptstadt weilen.

9. Ausweitung
Es gibt immer Pläne, das Tal zu erweitern und auf ein weiteres Tal durchzubrechen. Allerdings genügt es vollkommen, "A." zu vermitteln, dass hinter dem bereits bekannten Tal die Möglichkeit eines anderen Tales existiert. Man kann immer noch den zaghaften Ausbau auf der anderen Seite der Berge beginnen, solange dieser nicht den Erholungsalltag im Bergkessel stört. Es ist bekannt, dass sich "A." nachts, wenn er sich von einigen Regierungsgeschäften geplagt im Schlaf wälzte, nichts sehnlicher wünscht, als dass die ganze Welt aus einem einzigen Talkessel bestände. Sie sollte sich so ähnlich verhalten, wie das dieses Areal tut. Mit einer Bevölkerung, die sich als Schauspieler für ihn versteht. Mit einer Landschaft, wie sie scheinbar von selbst in ihre eigene Ur-Ordnung zurückfällt. Von ihm beherrscht und doch nicht an ihm lastend.

10. Simulation
Es würde vollauf genügen, diese Landschaften in Karten wiederzugeben. Diese Karten sollten über dem Klavier des Salons hängen. Ob die Menschen weiter weg von diesem Tal wissen oder nicht, ob es ein solches Tal ausser für ihn gibt, hat nur minimales Interesse für "A.", solange er es vor seinen Augen sehen kann.

 

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