Früher war hier viel los
Alfred Hugo, 70, Pensionär aus Erschmatt - Mitschrift
Was für einen Beruf haben Sie?
Ich bin pensioniert, schon acht Jahre. Ich arbeitete
bei der ALCAN im Tal, Aluminium. Zwischendurch
machte ich hier Landwirtschaft.
Geht das: "Landwirtschaft zwischendurch"?
Ich habe Schicht gearbeitet, die ersten zwanzig Jahre.
Da ging das gut. Später habe ich Tagesarbeit gemacht,
da wurde es schlimmer. Ich habe eine Viehzucht;
Schafe und Gei§en, wie's dazumal war. Jede Familie
hatte Kühe und vor allem Schafe; die Gei§en sind verschwunden.
Schafe und Kühe habe ich nur mehr zum
Spa§. Etwa drei§ig Stück. Ein grober Spa§, aber das
geht schon. Ich habe ja Zeit jetzt.
Seit wann leben Sie im Dorf?
Ich bin im Tal geboren. Dann sind meine Eltern immer
höher gekommen. Getwing und Niedergampel,
dort haben wir, dort haben wir eine Zeit lang gelebt,
abgeschnitten. Später sind sie ins Dorf gekommen. Ich
habe mit meinen Eltern und sieben Geschwistern hier
gelebt. Nachher habe ich geheiratet und dieses Haus
ein wenig hergerichtet.
"Ein wenig hergerichtet" hei§t wahrscheinlich, dass
Sie alles mit eigenen Händen gebaut haben.
Vieles. Man hatte wenig zur Verfügung, ich hatte zwei
gute Hände... Ich habe viel selber gemacht, vor allem
Holzarbeit. Aber auch Maurerarbeit. Am Berg muss
man - so sind wir erzogen worden - überleben.
Haben Sie einen zweiten Wohnsitz?
Ich lebe nur hier in Erschmatt. Ich habe noch eine Alphütte,
aber wir sind sehr wenig da oben.
Warum?
Ich wei§ nicht genau. Früher war die Alphütte natürlich
sehr primitiv, ohne WC. Am Anfang gar nichts,
dann ein Trocken-WC, später habe ich ein richtiges
WC installiert. Und jetzt, wo alles installiert ist, will
meine Frau nicht mehr hoch. Man kann mit dem Auto
bis vor die Hütte fahren. Von da her wäre es bequem,
aber sie will nicht.
Ist die katholische Kirche wichtig für das Dorf?
Sie bedeutet natürlich viel. Wir sind streng katholisch
erzogen worden. Aber ich bin nicht unbedingt ein...
Kirchenspringer. Ich habe einmal mit dem Pfarrer über
Religion gesprochen. Er hat mir gesagt, "Die Kirche ist
im Dorf so wichtig wie ein Wirtshaus". Und ich habe
ihm geantwortet, "Wenn ich wählen kann, dann wähle
ich das Wirtshaus".
Da hat sich einmal etwas abgespielt in der Kirche. Ich
ging beichten, habe meine Sünden bekannt und meinen
Abschluss gemacht. Und fragte der Herr Pfarrer:
"Hast Du auch alles gebeichtet?" Ich war zehn, zwölf
Jahre alt. Ich habe gesagt: "Ja, alles". Und da sagt
er: "Und die Bäume vom Herrn Lehrer?" Da sage
ich: "Ich wei§, dass sie ihm die Bäume abgeschnitten
haben. Aber ich bin unschuldig". Seitdem bin ich
ziemlich geheilt gewesen. Zwanzig Jahre später, durch
Zufall, habe ich erfahren, wer der Täter war. Und ich
sollte das beichten.
Gibt es Bräuche oder gar Aberglauben?
Hier steht ein Haus, von dem es heisst, es seien Geister
drin. Ein Masseur oder so ein Hellseher hat darin gewohnt.
Ich habe ihn einmal besucht und gefragt: "Ist
hier wirklich etwas los in diesem Haus!". Er hat gesagt:
"Ja, es spukt". Ich habe einfach lachen müssen.
Ich glaube nicht daran. Angst und Geld habe ich nie
gehabt. Früher sind wir eben bei Tag und Nacht über
den Berg gegangen. Taschenlampen gab's nicht, Angst
haben wir keine gehabt.
Wie viele Familienmitglieder leben im Dorf?
Eine Schwester lebt noch hier mit ihrem Mann, die
restlichen Geschwister sind ausgezogen. Die Jungensind auch weg.
Wir haben drei Söhne, einer wohnt hier, die anderen sind auch weg. Hier leben noch meine
Schwester, mein Sohn und natürlich weitere Verwandte.
Vielleicht sind wir fünfzehn bis zwanzig Hugos.
Früher war hier viel los, jedes Haus hatte zehn, zwölf,
fünfzehn Kinder.
Warum verlassen die Jungen das Dorf?
Grö§tenteils wegen des Berufs. In meiner Zeit war es
nicht möglich, einen Beruf im Dorf zu erlernen. Später
kamen immer neue Berufe. Hier gibt es keine Gelegenheit
zu arbeiten. Die Post, der Forstbetrieb, der Konsum,
sonst ist nichts. Die Leute mussten im Tal arbeiten.
Das fing schon an in der Schule. Die Lehre beginnt
im Tal, und was passiert? Da findest du Deine Kollegen
und bleibst da.
Was war für Sie die wichtigste Entwicklung in
50 Jahren?
Das Wichtigste war die Erschlie§ung des Dorfs. 1954
kam die Stra§e von Leuk hierher. Das war schon ein
gro§er Schritt.
Gab es dann Kontakte in die anderen Dörfer?
Früher waren wir viel im Nachbardorf Guttet. Sind
Abends gegangen und am anderen Tag zurückgekommen.
Doch unser Dorf war hauptsächlich nach Niedergampel
gerichtet. Jede Familie hatte Kühe, die Reicheren
ein Pferd oder Maultier. Sie haben etwas Geld
verdient mit Transport. Später kam noch die Stra§e
in Richtung Feschel, Richtung Jeizinen. Klar, da geht
man ab und zu mal hin. Man kommt schnell und geht
schnell. Jetzt hat man keine Zeit mehr oder ist schneller.
Was ist denn das wichtigste Erlebnis im Dorf
gewesen? In welcher Hinsicht?
Schwer zu sagen.. . Ich habe immer Freude gehabt am
Skifahren und an den Bergen. Es war immer schön,
wenn wir das Skiverein-Rennen durchführten. Am
Abend natürlich Preisverteilung mit Naturalpreisen.
Jeder hat noch das Wort dazu. Das war noch interessant.
Aber jetzt... die Leute haben weniger Zeit. Die
Jungen sind weg. Das ist für sie nicht mehr interessant.
Wohin wird sich das Dorf entwickeln?
Es geht in Richtung Tourismus. Aber es wird noch
lange dauern, bis der Tourismus hier Fu§ gefasst hat.
Jemand wollte mir Land abkaufen. Ich habe gefragt,
warum. Er hat mir erklärt, das Dorf, das ist ein Sanatorium
des Kantons Wallis. Es ist schön gelegen, sonnig
und ruhig. Hier kommen die Leute zum Heilen. Und
das stimmt.
Was bedeutet das Dorf für Sie?
Früher hat es mir viel bedeutet. Ich bin hier aufgewachsen.
Mein Vater hat hier Landwirtschaft betrieben und
auch ich habe Freude daran gehabt. Es ist meine Heimat.
Wobei ich sagen muss: Wäre ich noch einmal jung,
würde ich ausziehen. Hier wird's immer kleinlicher.
Man ist am Berg. Ich war vierzig Jahre arbeiten. Jeden
Tag vierzig Kilometer, das braucht viel Zeit und Geld
Und der Konsum: Alles ist teurer. Jetzt geht noch die
Schule im Dorf ein... das hat keine Zukunft. Das Dorf
wird ein Ferienort werden, aber sonst ist nichts mehr
so gut.
Machen Sie auch Urlaub?
Nicht so viel.
Aber Sie waren schon in Urlaub.
Nein, nicht unbedingt. Mit meiner Landwirtschaft ist
das nicht vereinbar. Jetzt will meine Frau nicht weit
weg. Letztes Jahr war ich in Argentinien, das war sehr
interessant. Aber das ist das Grö§te, was ich gemacht
habe. Dazu muss man erst Siebzig werden.
Traurig, oder? Dieses Jahr habe ich eine Anmeldung
gemacht für Schottland. Aber dann kam von der Reisegesellschaft
die Nachricht, es gäbe zu wenig Anmeldungen.
Das hätte mich interessiert.
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