Frauen am Hebel - Die klappbare Alp
Ein Nicken zwischen den Frauen. Sie stehen bereit und
scherzen. Die ersten Schritte gegen den Berg, dieses
Jahr scheint die Sonne beim Aufstieg. In einem langen
Zug machen sie sich zwei Sonntage nach Fronleichnam
vom Dorf aus auf den Weg. Die Strecke führt durch
den alten Förenwald hinauf zur Alp. Jedes Jahr schickt
das Dorf seine Frauen über das Maiensä§ hinauf, bis die
Baumgrenze zurücktritt, und vor dem Fels eine Alpwiese
beginnt. Die ersten Aufzeichnungen zu diesem
Zug finden sich in den Pfarrarchiven und reichen bis
1265 zurück. Die Alp liegt in einem abgeschiedenen
Seitental und gehört dem Dorf als Allmend. Die Frauen
beanspruchen den Sommer dort. Hier werden sie
von Juni bis September soviel käsen, wie die Milch der
Kühe und Geissen hergibt. Die Männer hingegen begeben
sich an die Baustellen und graben weitere Verkehrswege
durch Berge.
Nach drei Stunden und zwanzig Minuten erreicht der
Zug der Frauen den Wildbach, an dessen Brücke sich
ein versteckter Hebel befindet. Der setzt einen alten
Wassermechanismus in Gang. Er ist sehr gut versteckt,
er sieht aus wie eine alte Tanne, von der nur ein Stumpf
übrig geblieben ist. Vielleicht wissen es alle Frauen
längst, aber nach altem Recht steht es nur der ältesten
zu, diesem Hebel zu kennen und zu betätigen. Sie tritt
also auch an diesem Tag nach vorne, holt noch einmal
tief Luft und zieht ihn mit aller Gewalt zu sich. Man
hört ein Rumpeln im Berg, die alten Matten beginnen
zu vibrieren, und unter dem Bergsturz, dort wo einzelne
Felsbrocken nach langem Fall zu liegen kamen, tauchen
mühsam ächzend aber vollzählig zuerst die Dächer,
dann auch die Wände und schlie§lich die Sockel
der Alphütten auf.
Die Frauen nicken sich zufrieden zu. Die Alp steht vor
ihnen. Im Winter war sie im Boden versenkt. Restlos.
Der schwere Schnee hätte sonst ihre Dächer eingedrückt
und sie unbewohnbar gemacht. Man hört immer wieder
von morschen Hütten auf anderen Alpen. Immer wieder
hört man davon, dass der abtauende Schnee des Frühjahrs
das eine oder andere zerbrochene Dach freigibt.
Vor 260 Jahren fassten deshalb die Frauen des Tals den
Beschluss für einen solchen Mechanismus. Sie liessen
nicht nur die Bäche in Bewässerungskanäle laufen.
Sie nutzten auch das Wasser dazu, um es wie in einer
Schleuse arbeiten zu lassen. Seitdem heben sich die
Hütten zu Beginn des Sommers und verschwinden
unter der Erde, wenn das Werk getan ist. Die Frauen
fahren vor ihrem Abstieg die Hütten zurück in den
Boden, indem sie vorher beiseite geschaffte Grasnarben
und Strohmatten nach dem Versenken darüber
verteilen. Nichts nimmt nun Schaden. Und man sieht
für den Rest des Jahres keinen Stein hervorschimmern.
Jahre zuvor hatte man im Dorf lange Zeit darüber gesprochen,
das ständige Ein- und Ausfahren der Alp zu
unterlassen. Einzelne Verluste seien die damit verbundene
Mühe vielleicht doch nicht wert. Der komplizierte
Mechanismus unter Tage fordere immer wieder Instandsetzungsarbeiten
der Männer, die dafür sogar ihre
Sonntage einsetzen mussten, um zurück in das Tal zu
fahren, aufzusteigen und Wartungen durchzuführen.
Warum also nicht einfach die Alp so belassen, wie man
sie ursprünglich auch gebaut hatte. Die Frauen stimmten
dagegen.
So also steht die Alp jedes Jahr bereit. Das hinaufgetriebene
Vieh verteilt sich sofort auf den grünen Matten
und beginnt zu grasen. Es geschah zuletzt 1967: Ein
zuerst teilnahmslos dann immer interessierter arbeitender
Kartograph entkam seinem Schicksal nur mit
knapper Not. Er sass an einem Hang in die Höhenlinien
seiner Kartenskizze vertieft, als er das ächzen der
einfahrenden Alp vernahm.
Neugierig geworden stieg er zu den Frauen hinab. Was
das denn zu bedeuten habe. Ein Nicken der Frauen
zueinander und der Kreis schloss sich stumm um ihn.
Man zwang ihn, seine Karten abzugeben und einzuheiraten.
Die Karte des Tals kann in Bern als Èunvollständig
Ç eingesehen werden.
Frauen am Hebel - Die klappbare Alp von Harald Taglinger steht unter einer Creative Commons Namensnennung-Nicht-kommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Schweiz Lizenz. Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie unter http://taglinger.de erhalten.
Alpgenossen: Anatol Locker - Andreas Mühe - Florian Wenz - Harald Taglinger - Peter Hunziker - Pit Stenkhoff - Utto Kammerl
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